Sie war eine Frau und wollte die Quellen des Lebens finden. Sie wollte ihr Rauschen hören und sich an der Kraft ihres kristallklaren Wassers erfrischen.
Das leise Murmeln der Bäche in den blühenden Wiesen der Täler konnte ihre Sehnsucht auf Dauer nicht stillen. Auch die wilden Flüsse, die von den Felsen stürzten und sich durch die Schluchten zwängten, fehlten ihr den einen, besonderen Klang – den, der ihre Seele jubeln und ihr Herz ruhig werden liess.
«Die Quellen des Lebens muss man höher suchen», sagte die Frau. «Die grösste Kraft bleibt oft verborgen und will errungen werden.»
Und so begann ihre Reise.
Während sie durch die Wälder wanderte, in denen die alten Arven ihre mit Moos behangenen Äste gen Himmel reckten, hörte sie plötzlich lautes Lachen und Johlen. Ein Trupp Männer tauchte lärmend zwischen den Felsen auf.
Die Frau blieb stehen, voller Ehrfurcht. «Wisst ihr, wo die Quellen des Lebens sind?» fragte sie zögernd.
«Bei uns!» riefen die Männer und schlugen sich auf die Brust. «Komm, koste unseren Trank – er wird dir gefallen!» Sie lehnten sich ihr entgegen, die Lippen zum Kuss bereit.
Doch die Frau wich zurück und floh in die Dunkelheit der Bäume. Scham brannte auf ihren Wangen. Mit klopfendem Herzen stieg sie weiter hinauf.
Der Pfad wurde steiler, und als sie schliesslich das kahle Geröllfeld vor dem Gipfel erreichte, trat ihr eine Gestalt in schwarzem Gewand entgegen.
«Ich suche die Quellen des Lebens», sagte sie und hob bittend die Hände. «Ich sehne mich nach einer Kraft, die das Leben erträglich und schön macht.»
Der Mann mit dem harten Gesicht eines Asketen betrachtete sie mit einem kühlen Blick.
«Verzichte auf alles», sagte er. «Dann besitzt du alles. Reisse die Wünsche aus deiner Seele. Nur in der völligen Entsagung entspringen die wahren Quellen des Lebens.»
Die Frau verstand nicht. Sie sah in seine freudlosen Augen, aus denen kein Segen sprach, und schüttelte den Kopf.
«Verneinung und Entsagung können niemals Leben schenken. Wenn ich alles ersticke, wie soll ich dann strahlen? Nein – das kann nicht die Wahrheit sein.»
Und voller Hoffnung zog sie weiter.
Da hörte sie aus der Ferne ein Rauschen, das wie Wasser klang. Ihr Herz schlug schneller. Entschlossen kämpfte sie sich durch die Einöde, folgte dem silbernen Klang.
Plötzlich lichteten sich die Nebel, und ein Sonnenstrahl tauchte die Welt in goldene Farben. Im strahlenden Licht erschien ein Paar – jung und voller Glück. Ihre Augen leuchteten, und der beschwerliche Weg schien für sie nicht zu existieren.
«Kommt ihr von den Quellen des Lebens?» fragte die Frau, atemlos vor Erwartung.
Die junge Frau lehnte ihren Kopf an die Brust des Mannes und sagte mit leuchtendem Blick:
«Die Quelle meines Lebens entspringt seinem Herzen. Aus seiner Liebe wächst mein Glück. Ich sehe ihn – und ich spüre eine Kraft in mir, die alles vermag.»
Die Wanderin sah sie voller Verstehen an.
«Gesegnet ist die Frau, die so sprechen kann. Doch es muss noch eine andere Quelle geben. Eine, aus der jeder schöpfen kann – auch die Einsamen.»
Und suchend zog sie weiter.
Die Sonne verschwand hinter den Nebeln, der Weg wurde gefährlicher. Kein einziges Blümchen wuchs mehr auf dem Fels, alles Leben schien hier oben erloschen. Doch das Rauschen wurde lauter, heller, reiner.
Die Frau lauschte – ihr Herz füllte sich mit einer unbeschreiblichen Freude.
«Das müssen die Quellen des Lebens sein!» rief sie aus.
Mit neuer Kraft ging sie weiter. Die Ödnis um sie herum hatte ihren Schrecken verloren. Sie horchte – doch so hoch sie stieg, so weit sie blickte: Sie sah nur graue Felsen. Die Wasser aber blieben unsichtbar.
Und dann, plötzlich, wurde ihr alles klar.
Die wundersamen Töne, die sie so verzweifelt gesucht hatte – sie kamen aus ihr selbst.
Die unsichtbaren Wasser, die Quellen des Lebens, die Kraft, die alles trägt – sie strömten aus ihrer eigenen Seele. Sie füllten die Einsamkeit um sie herum mit tausend Stimmen – dunklen und hellen, jubelnden und klagenden, so wie das Leben selbst.
Da breitete sie die Arme aus, lachte und weinte vor Glück.
Und voller Freude kehrte sie zurück in die Niederungen der Menschen.
Mit einem Glanz ewiger Jugend in den Augen verkündete sie den Einsamen die Botschaft von den Quellen des Lebens – und der silberne Klang des unsichtbaren, niemals versiegenden Wassers erfüllte fortan ihre Tage.
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