Weinen ist oft mit Schwäche verbunden. Doch was, wenn Tränen eine ganz eigene Kraft besitzen – eine, die heilt, klärt und befreit?
Tränen haben keinen guten Ruf in unserer Welt.
Sie gelten als Zeichen der Schwäche, als Kontrollverlust, als etwas, das man besser für sich behält. Besonders, wenn man schon gross ist. Besonders, wenn man funktionieren muss. Besonders, wenn man ein Mann ist.
Doch was, wenn genau diese Tränen das sind, was uns fehlt?
Was, wenn sie nicht Schwäche bedeuten – sondern Befreiung?
Schon als Kind lernen wir, die Tränen zu zügeln.
«Jetzt hör aber auf zu weinen!», «Reiss dich zusammen!», «Ist doch nicht so schlimm.»
Später wird es noch subtiler.
Man weint heimlich. Oder gar nicht mehr.
Weil man gelernt hat, dass es nicht passt.
Weil man niemandem zur Last fallen will.
Weil man sich schämt für etwas, das so menschlich ist wie der Atem.
Dabei sitzen sie oft ganz nah – direkt hinter den Augen.
Manchmal genügt ein Satz, ein Lied, ein Blick – und sie stehen plötzlich da. Und dann beginnt der Kampf: bloss nicht loslassen.
Warum eigentlich?
Vielleicht, weil Tränen an etwas rühren, das wir lange verdrängt haben.
Nicht nur Traurigkeit – auch zarte Rührung, alte Wunden, tiefe Dankbarkeit, gescheiterte Hoffnungen.
Und vor allem: an das Bedürfnis, endlich echt zu sein.
In einer Welt, die ständig nach Optimierung ruft, sind Tränen ungebetene Gäste. Sie lassen sich nicht planen, nicht filtern, nicht vermarkten. Sie kommen, wenn es Zeit ist.
Und genau darin liegt ihre Kraft.
Weinen ist kein Rückfall in die Kindheit.
Es ist eine Rückverbindung mit dem, was lebendig ist.
Wenn wir weinen, lösen wir uns. Von Druck. Von Rollen. Von Masken.
Die Tränen tragen das mit sich fort, was das Herz zu lange gehalten hat.
Sie reinigen. Nicht nur die Augen – sondern auch den Blick nach innen.
Nach dem Weinen wird es oft still. Weich. Klar.
Etwas ist gegangen. Und etwas ist geblieben: du selbst.
Was wäre, wenn wir das Weinen wieder würdigen würden?
Nicht nur als Reaktion auf Schmerz – sondern als Form der Achtsamkeit.
Als Einladung, den Staudamm in uns nicht immer weiter zu befestigen, sondern einmal das Wasser fliessen zu lassen.
Still. Ehrlich. Ohne Drama. Ohne Ziel. Nur: Tränen, die sein dürfen.
Vielleicht beginnen wir, die Welt ein wenig anders zu sehen, wenn wir die Tränen nicht länger fürchten. Vielleicht erkennen wir in ihnen einen Teil unserer Würde – nicht trotz, sondern wegen ihrer Zartheit.
Denn in einem Moment der Tränen ist alles echt.
Und das ist mehr, als viele Worte je sagen könnten.
Tränen, die befreien, kenne ich gerade in den letzten Jahren ziemlich häufig. Gerne lache ich aber auch Tränen, leider inzwischen viel zu selten. Sie dürfen wieder häufiger fließen.
Wundervoll von Dir dargebracht, der nicht so gute Ruf der Tränen und die heilsame und reinigende Kraft, die mit ihnen fließt.
Aus Kindheit und Jugend kenne ich allerdings auch sogenannte Krokodilstränen, diese wurden vom Vater als Druckmittel eingesetzt, wir sollten uns seinem Willen fügen. Als Kinder war dieses Wahrnehmen erschreckend, später habe ich ihn für seine Manipulationsversuche verachtet.
Liebe Grüße, C Stern
Deine Gedanken zu den verschiedenen Gesichtern der Tränen – von der befreienden Kraft bis hin zum schmerzhaften Missbrauch durch Manipulation – zeigen eindrücklich, wie vielschichtig dieses scheinbar so einfache menschliche Phänomen ist.
Es tut weh zu lesen, dass Du als Kind solche Erfahrungen machen musstest. Umso mehr bewundere ich Deine Klarheit und Deine Fähigkeit, auch heute noch den heilenden Aspekt der Tränen nicht zu verlieren.
Und ja – Tränen des Lachens sind wahre Perlen. Mögen sie Dir wieder häufiger geschenkt werden.
In Verbundenheit
Hanspeter