In einem fernen Land, jenseits der bekannten Horizonte, lebten die Menschen einst so lange, dass der Tod kaum je Einlass fand.
So kam es, dass ein seltsames Gesetz erlassen wurde: Die Söhne sollten ihre Väter töten. Ein junger Mann jedoch, dem die Liebe zu seinem Vater heilig war, konnte diesen grausamen Befehl nicht ausführen. Er versteckte seinen Vater in einer verborgenen Kammer und pflegte ihn mit Hingabe und Zärtlichkeit.
In jener Stadt, in der der junge Mann lebte, wurde eines Tages ein neuer Richter gesucht. Die Ratsherren verkündeten, dass das Amt demjenigen übertragen würde, der am kommenden Morgen als Erster die Sonne erblicken würde. Der Sohn, in seiner Not, erzählte dies seinem verborgenen Vater. «Mein lieber Junge,» sprach der weise Alte, «gehe hin, wende dem Osten den Rücken zu und blicke auf den höchsten Berg. So wirst du als Erster die Sonne sehen.»
Der Sohn tat, wie ihm geheissen. Als der Morgen graute, versammelten sich die Ratsherren und richteten ihre Blicke gen Osten. Doch der junge Mann drehte ihnen den Rücken zu und schaute gen Westen, auf den höchsten Berg. Die Ältesten lachten und verspotteten ihn: «Seht diesen Narren, er blickt in die falsche Richtung.» Doch plötzlich rief er: «Schaut, dort auf dem höchsten Berg ist die Sonne!»
«Wer hat dich gelehrt, die Sonne als Erster zu erblicken?» fragten die Ratsherren erstaunt. «Mein alter Vater!» erwiderte er. «So sollst du Richter werden,» sagten sie, «aber komm morgen zu uns, weder barfuss noch beschuht, weder zu Fuss noch beritten.» Der Sohn erzählte dies seinem Vater. «Schneide die Schäfte deiner Stiefel ab und streife sie über, dann bist du weder barfuss noch beschuht,» riet der weise Mann. «Setze dich auf einen Ziegenbock, so dass deine Füsse über den Boden schleifen, dann bist du weder zu Fuss noch beritten.» Der Sohn folgte diesem Rat und erschien so vor den Ratsherren. «Wer hat dich das gelehrt?» fragten sie erneut erstaunt. «Mein alter Vater,» antwortete er.
So machten die Ratsherren ihn zum Richter.
Es begab sich, dass der gesamte Roggen der Stadt verdarb und kein Saatkorn mehr vorhanden war. Die Ratsherren und Bürger verzweifelten und wussten nicht, wie sie neue Saat beschaffen sollten. Der junge Richter suchte Rat bei seinem Vater. «Mein lieber Junge,» sagte dieser, «nimm eine alte, ausgedroschene Garbe vom Dach der besten Scheune, trage sie aufs Feld und vergrabe sie; so wirst du Saatkorn erhalten.» Der Sohn gehorchte und an der Stelle, wo er die Garbe vergraben hatte, spross bald neuer Roggen. «Wer hat dich das gelehrt?» fragten die Ratsherren wiederum. «Mein alter Vater,» antwortete er.
«Dein Vater hat dich vieles gelehrt. Wo liegt er begraben?»
«Mein Vater lebt,» gestand der Richter. «Ich konnte es nicht übers Herz bringen, ihn zu töten, und halte ihn versteckt.»
«Und warum?»
«Weil ich ihn liebe und nicht wollte, dass ihn ein anderer findet und umbringt. Und weil er mir kluge Ratschläge gibt.»
Da erliessen die Ratsherren ein neues Gesetz: Es sei fortan verboten, die alten Leute zu töten, um ihrer Weisheit nicht verlustig zu gehen. Und so durften die Alten nun eines natürlichen Todes sterben.
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