Johann Gruber kämpfte sich mühsam durch den tiefen Schnee auf der Landstrasse. Sein Ziel war die Fabrikstadt Steyr, wo er früher gearbeitet hatte.
Die Stadt lag in einem Tal entlang der Enns, umgeben von Hügeln, deren Wälder nun kahl und von Schnee bedeckt waren. Um seine blaugefrorenen Hände vor dem eisigen Wind zu schützen, steckte er sie in die Taschen seines abgetragenen Mantels. Doch immer wieder musste er sie hervorziehen, um seinen alten, schäbigen Hut festzuhalten, den der Wind ihm vom Kopf zu reissen drohte.
Am Horizont tauchten die ersten Häuser der Vorstadt auf, die zur Stadt Steyr gehörten. Doch statt Hoffnung oder Erleichterung zu verspüren, murmelte Johann grimmig: «Jetzt komme ich wohl doch zu früh.» Mit schweren Schritten setzte er seinen Weg fort, bis er einen alten Meilenstein am Strassenrand entdeckte. Der Stein trug noch verwitterte Markierungen, die anzeigten, wie viele Kilometer es bis zur Stadt waren. Nach kurzem Zögern setzte sich Johann darauf und wischte den Schnee mit der Hand weg.
Kaum sass er, da hörte er die Glocken der Steyrer Stadtpfarrkirche läuten. Zuerst erklang nur eine einzelne Glocke, doch nach und nach stimmten andere Glocken der Stadt ein, bis ein mächtiges Geläut entstand. Johann hob den Kopf und blickte in die Richtung, aus der die Töne kamen. Ein plötzlicher Ausdruck des Erkennens glitt über sein Gesicht.
«Weihnachten… Es ist heute Weihnachten», murmelte er leise vor sich hin. «Und ausgerechnet heute komme ich heim… so heim.» Seine Stimme brach, und seine Blicke wanderten in die Ferne.
Ein tiefer Schatten der Traurigkeit legte sich über sein Gesicht, als seine Gedanken in die Vergangenheit abschweiften. Sie führten ihn zurück in die Zeit, als er und Theresia frisch verheiratet waren. Die beiden hatten eines der kleinen Häuser bewohnt, die die Fabrikleitung für ihre Arbeiter erbaut hatte. Die Häuschen standen am Rand der Fabrik, mit kleinen Gärten dahinter. Es war eine ruhige, fast dörfliche Gegend, obwohl die dampfenden Schornsteine der Fabrik immer präsent waren.
Johann hatte damals in der Metallfabrik gearbeitet, einer der grössten in der Region. Die Enns trieb das Wasserrad der Fabrik an, und das rhythmische Klopfen der Hämmer war ein vertrauter Klang. Theresia hatte zu Hause genäht und gelegentlich Kleider angefertigt. Gemeinsam hatten sie ein bescheidenes, aber zufriedenes Leben geführt. Doch dann änderten sich die Dinge in der Fabrik. Neue Arbeiter wurden eingestellt, und mit ihnen kam auch ein neuer Vorarbeiter, ein gewisser Hinteregger. Der war streng und wenig zimperlich. Mit ihm begann für Johann eine schwere Zeit.
Johann war nicht der Typ, der sich alles gefallen liess. Wenn er das Gefühl hatte, dass ihm Unrecht getan wurde, widersprach er – auch dem Vorarbeiter. Das allerdings zog ihm Hintereggers Abneigung zu. Die anderen Arbeiter, ein raues, lediges Volk, verspotteten Johann ebenfalls, weil er sich nicht an ihren Trinkgelagen beteiligte. Um dem ständigen Gespött zu entkommen, liess er sich schliesslich breitschlagen und ging ein paar Mal mit – auch wenn er es eigentlich nicht wollte.
Theresia merkte schnell, dass etwas nicht stimmte. Sie sprach mit ihm, warnte ihn vor dem Umgang mit den anderen und bat ihn, sich fernzuhalten. Zunächst hörte Johann auf sie. Er versprach, sich nicht mehr mit den Kollegen abzugeben, und hielt sein Wort für ein paar Tage. Doch die Angst, ausgelacht zu werden, liess ihn schliesslich wieder nachgeben.
Dieser innere Konflikt zerriss ihn. Er war hin- und hergerissen, meist in schlechter Stimmung, und wenn er nach Hause kam, sah er oft Theresias verweinte Augen. Das machte ihn nur noch wütender. Früher hatte er die Zeit bis zum Feierabend kaum erwarten können. Theresias leuchtende Augen, wenn er nach Hause kam, waren sein grösstes Glück gewesen. Doch jetzt war alles anders.
Johann begann, in der Arbeit nachlässig zu werden. Er lieferte Vorarbeiter Hinteregger immer mehr Gründe, ihn zu tadeln, was seine Lage noch verschlimmerte.
Eines Morgens, nach einer durchzechten Nacht, erschien Johann mit schlechter Laune bei der Arbeit. Es dauerte nicht lange, bis er mit Hinteregger in einen heftigen Streit geriet. Der Vorarbeiter liess sich nicht einschüchtern, und die Situation eskalierte. Am Ende des Streits wurde Johann entlassen. Man zahlte ihm seinen Lohn aus, und er musste die Fabrik sofort verlassen.
In wütender Verzweiflung kehrte er nach Hause zurück. Theresia, die überrascht über seine ungewöhnlich frühe Rückkehr war, versuchte ihn zu trösten. Doch Johann wollte davon nichts hören. Stattdessen schnitt er ihr mit schroffen Worten das Wort ab.
Am Abend zog er sich an, um erneut das Haus zu verlassen. Theresia spürte eine wachsende Angst in ihrem Herzen. Sie stellte sich ihm in den Weg, flehte ihn an: «Johann, bitte bleib heute hier – nur heute.» Ihre Stimme war sanft, doch voller Sorge.
Doch Johann war durch ihre Bitte gereizt. Er setzte seinen Hut auf, drehte sich um und knallte die Tür hinter sich zu. «Ach, nichts als nörgeln kannst du!» rief er, ohne sich noch einmal umzublicken. Es war sein letzter Abschied von Theresia.
Johann war jetzt schon mehr als sieben Monate unterwegs, ohne irgendwo lange zu bleiben. Die ständige Angst begleitete ihn, dass jemand seine Papiere verlangen könnte. Manchmal fand er keine Arbeit und musste hungern. Alles hatte in jener Nacht begonnen, als er seine Frau so schroff abgewiesen hatte.
Er war damals in seine übliche Wirtschaft gegangen, wo er fast immer auf ein paar seiner Kumpane traf, die ihn oft in schlechte Gesellschaft zogen. An diesem Abend jedoch geschah etwas, das alles veränderte: Der Zufall wollte es, dass auch Hinteregger, der Vorarbeiter, auftauchte. Kaum hatte Johann ihn gesehen, flammte seine Wut neu auf. Es brauchte nur ein paar spöttische Bemerkungen von Hinteregger und das Anstacheln der anderen, die mit Schadenfreude geladen waren, und schon eskalierte die Situation.
Johann, der dem etwa 40-jährigen Hinteregger an Körperkraft und Statur überlegen war, packte ihn und stiess ihn so heftig, dass Hinteregger über einen Stuhl stürzte und reglos am Boden liegen blieb. Es sah aus, als wäre er tot.
Plötzlich wurde Johann nüchtern. Er blieb wie erstarrt stehen, bis einer seiner Kameraden sagte: «Gruber, das könnte dich alles kosten – vielleicht sogar das Zuchthaus.» Dieser Satz liess ihn in Panik geraten. Ohne nachzudenken, rannte er los, bis er völlig ausser Atem war. Erst als er weit weg war, merkte er, dass niemand ihm folgte. Doch zurück konnte er nicht mehr – allein das Wort «Zuchthaus» jagte ihm unendliche Angst ein.
Von da an begann er, von Stadt zu Stadt zu ziehen, immer auf der Suche nach Arbeit. Er brauchte wenigstens so viel Geld, um sich Essen kaufen zu können. Von zu Hause hörte er nichts, und auch in den Zeitungen fand er keine Nachricht über den Vorfall. Trotzdem lebte er in ständiger Angst, entdeckt und verhaftet zu werden.
Mit der Zeit begann ihn die Reue zu quälen: Warum hatte er nur so gelebt? Wie konnte er Theresia und sich selbst in diese Lage bringen? Es hätte nicht so kommen müssen, wenn er nur anders gehandelt hätte.
Die Sehnsucht nach Theresia wurde übermächtig. Er konnte nicht fassen, dass er ihr so wehgetan hatte. Doch was sollte sie jetzt noch von ihm wollen? Er war überzeugt, dass sie keinen Platz mehr für ihn in ihrem Leben hätte. Ausserdem bestand immer die Gefahr, dass ihn jemand erkannte und er am Ende doch ins Zuchthaus gebracht wurde.
Aber die Sehnsucht nach seiner Frau, nach ihrem gemeinsamen Zuhause, nach der Wärme und Geborgenheit, überwog schliesslich alle Ängste. Johann fasste einen Entschluss: Selbst wenn es bedeutete, erkannt und bestraft zu werden, würde er nach Hause zurückkehren. Er würde Theresia um Verzeihung bitten. Sie war immer gut zu ihm gewesen, und er hoffte, dass sie auch jetzt Mitgefühl mit ihm haben würde.
Doch er wusste, dass er nur heimlich zurückkehren konnte. Wie ein Verbrecher wollte er sich nicht erwischen lassen. Deshalb beschloss er, die Dunkelheit abzuwarten, um unbemerkt nach Hause zu schleichen.
Dass heute Weihnachten war, hatte er fast vergessen. Als er sich daran erinnerte, wurde ihm schwer ums Herz. Ausgerechnet an diesem Tag, der für Frieden und Freude stand, kehrte er zurück – und brachte womöglich nur Streit und Elend mit sich.
Die Nacht war längst hereingebrochen, und der Himmel war klar. Zahllose Sterne funkelten über ihm, und am Horizont leuchtete die Stadt mit einem warmen, rötlichen Schein. Doch Johann sah nichts von der Schönheit um ihn herum. Er sass noch immer auf dem Stein am Strassenrand, gedankenverloren und von der Kälte durchdrungen. Alles, was er spürte, war die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Theresia.
Ein Fuhrwerk kam langsam die Strasse entlang. Der Fuhrmann knallte mit der Peitsche, um seine Pferde anzutreiben. Er wollte schnell nach Hause, in die Wärme seiner Stube. Als er Johann bemerkte, hielt er kurz an und rief: «He, wenn ihr in die Stadt wollt, kommt mit! Bei dieser Kälte könnt ihr nicht hier draussen bleiben.»
Johann fuhr erschrocken aus seinen Gedanken hoch. Seine Glieder waren steif vor Kälte, und er brauchte einen Moment, um sich aufzuraffen. Ohne ein Wort setzte er sich neben den Fuhrmann. Auf dessen Fragen, woher er kam und wohin er wollte, gab Johann nur knappe, einsilbige Antworten.
Als sie die Vorstadt erreichten, bedankte sich Johann mit einem «Vergelt’s Gott!» und stieg ab. Der Fuhrmann trieb seine Pferde weiter, und Johann schlug einen schmalen Weg ein, der zu den kleinen Häuschen führte, die einst von der Fabrikleitung erbaut worden waren.
Doch als er vor dem vertrauten Haus stand, war alles anders. Kein Licht brannte im Fenster, und die Tür schien ihm fremd. Ein Gefühl der Beklemmung überkam ihn.
Johann sammelte all seinen Mut und klopfte schliesslich an die Tür. Es dauerte einen Moment, bis drinnen jemand reagierte. Dann öffnete ein fremder Mann und fragte Johann, was er wollte.
«Wohnt hier nicht Frau Theresia Gruber?» fragte Johann mit unsicherer Stimme.
Der Mann schüttelte den Kopf. «Nein, sie ist schon lange ausgezogen. Hier wohnen nur noch Arbeiter, die in der Fabrik beschäftigt sind.»
Die Frau des Mannes gab ihm eine neue Adresse, in einer Mietskaserne in einem ärmlichen Viertel von Steyr. Johann bedankte sich höflich, zog sich zurück und stieg langsam die Stufen hinunter. Sein Kopf war gesenkt, und er fühlte sich, als hätte man ihm einen Schlag ins Gesicht versetzt.
Eine Weile stand er auf der Strasse, ohne sich zu bewegen. «Ich habe alles zerstört», dachte er. «Nicht nur mein Leben, sondern auch Theresias.» Mit schwerem Herzen machte er sich auf den Weg zu der Adresse, die ihm genannt worden war.
Es dauerte lange, bis er vor der Mietskaserne stand, in der Theresia jetzt leben sollte. Das Gebäude war alt und heruntergekommen, und die Treppenhäuser waren schmutzig. Johann ging langsam die Treppen hinauf und suchte ihren Namen an den kleinen Zettelchen, die an den Türen befestigt waren.
Schliesslich blieb er vor einer Tür stehen. Sie öffnete sich, und eine ältere Frau kam heraus. Sie sah ihn misstrauisch an und fragte: «Was wollen Sie hier?»
Johann räusperte sich und sagte zögernd: «Wohnt hier Frau Theresia Gruber?»
«Ja, sie wohnt hier», antwortete die Frau, «aber sie ist krank. Sie schläft gerade und darf nicht gestört werden.»
Doch bevor die Frau die Tür schliessen konnte, hörte Johann eine schwache Stimme aus dem Inneren des Raumes: «Johann?»
Die Stimme liess Johann erstarren. Es war Theresias Stimme, leise und schwach, doch unverkennbar. Ohne zu zögern trat er ein, und vom Bett her rief sie noch einmal, mit mehr Kraft: «Johann, du bist wirklich gekommen… Ich freue mich so!»
Johann trat näher und sah sie liegen, blass und erschöpft, aber mit einem Lächeln auf den Lippen. Ihre Augen leuchteten, als sie seine Gestalt erkannte. Er kniete sich neben das Bett, und ihre Hände suchten die seinen. Sie hielt ihn fest, und ihre Finger umschlangen sich, als könnten sie nie wieder loslassen.
«Theresia», flüsterte Johann. «Theresia, verzeih mir! Ich war so blind… so dumm.» Seine Stimme brach, und Tränen rollten über sein Gesicht.
Theresia lächelte sanft. «Lass es gut sein, Johann», sagte sie. «Ich bin einfach froh, dass du wieder da bist. Ich habe so lange auf dich gewartet. Ich dachte schon, ich würde dich nie wiedersehen.»
In diesem Moment erklang ein leises Wimmern, und Johann wandte überrascht den Kopf. Neben dem Bett lag ein kleines Bündel, liebevoll eingewickelt in eine Decke. Ein Baby.
«Unser Kind», flüsterte Theresia. «Es kam vor ein paar Wochen zur Welt. Gott hat es uns gerade jetzt, zu Weihnachten, geschenkt.»
Johann war sprachlos. Sein Blick blieb auf dem schlafenden Gesicht des Kindes ruhen. Er spürte, wie ein überwältigendes Gefühl der Liebe und Verantwortung ihn durchströmte.
Er schlug die Hände vors Gesicht, überwältigt von seinen Gefühlen. «Wie konnte ich so lange fortbleiben?» murmelte er. «Wie konnte ich euch das antun?»
«Jetzt bist du hier, Johann. Das ist alles, was zählt», antwortete Theresia.
Johann wollte etwas sagen, doch ein Gedanke quälte ihn. «Theresia», begann er zögernd, «ich habe Angst. Man wird nach mir suchen. Ich habe Hinteregger damals… ich habe ihn verletzt. Was, wenn sie mich hier finden und mitnehmen?»
Theresia sah ihn überrascht an. «Hinteregger?» fragte sie verwundert. «Johann, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Hinteregger hat sich damals schnell wieder erholt. Er wollte dich zwar anzeigen, aber die anderen Arbeiter haben bezeugt, dass er dich herausgefordert hat. Es ist nichts weiter passiert.»
Johanns Anspannung löste sich ein wenig, doch er schüttelte den Kopf. «Theresia, wie kannst du noch so gut zu mir sein? Ich habe dir so viel Kummer bereitet. Ich habe unser Leben zerstört.»
Theresia sah ihn liebevoll an. «Johann, ich habe dir längst vergeben. Wir haben schwere Zeiten durchgemacht, aber jetzt sind wir wieder zusammen. Das ist alles, was zählt.»
Johann nickte langsam, doch die Schuldgefühle liessen ihn nicht los. «Ich habe nichts mitgebracht», sagte er leise. «Kein Geschenk, keine Hoffnung, nur mich – und so, wie ich bin, werde ich schwer Arbeit finden.»
Theresia lächelte. «Johann, die Menschen sind nicht so hart, wie du denkst. Deine alte Stelle in der Fabrik ist noch frei. Du kannst morgen hingehen und wieder anfangen. Die Männer, die dich früher verspottet haben, sind längst fort.»
Johann starrte sie an, unfähig, etwas zu sagen. Schliesslich fragte er: «Wie hast du das alles geschafft, Theresia? Wie hast du es allein durch diese Zeit geschafft?»
Theresia lehnte sich zurück und sprach mit ruhiger Stimme. «Es war schwer, Johann. Anfangs wusste ich nicht, wie ich zurechtkommen sollte. Aber dann kam immer mehr Arbeit, und ich konnte sogar ein wenig Geld zurücklegen. Das hat uns jetzt durch diese Zeit gebracht.»
Ein warmes Leuchten breitete sich über Theresias Gesicht aus. «Aber das Wichtigste ist unser kleiner Sohn. Schau ihn dir an, Johann. Ist er nicht das grösste Geschenk? Und gerade heute, am Heiligen Abend, hat Gott uns wieder zusammengeführt.»
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