Es war einmal ein Junge namens Jakob, der in einer kleinen Stadt lebte. Jakob fühlte sich oft unsichtbar, so als wäre er nur ein Schatten in einer Welt voller Licht. Die anderen Kinder spielten laut und ausgelassen, während er sich leise durch den Tag schlich, unbemerkt und verloren.

Seine Eltern waren liebevoll, aber sie waren so beschäftigt, dass sie die Sehnsucht in seinem Herzen nicht sahen. Also zog sich Jakob zurück, in einen alten Park am Rande der Stadt.

Der Park war wild und geheimnisvoll. Die Bäume hatten sich über die Wege gebeugt, als wollten sie das Geheimnis des Ortes bewahren. Für Jakob war dieser verwilderte Park ein Zufluchtsort. Hier konnte er seinen Gedanken nachhängen, die Vögel beobachten und sich vorstellen, dass er in einer Welt lebte, in der er wichtig war, in der man ihn nicht einfach übersah.

Eines Tages, als Jakob wieder einmal zwischen den Bäumen umherstreifte, entdeckte er eine alte Frau, die auf einer Bank sass. Sie fütterte die Vögel mit Brotkrumen und sprach leise mit ihnen, als wären sie ihre alten Freunde. Jakob wollte sich unbemerkt vorbeischleichen, doch die Frau drehte sich um und lächelte ihn an.

«Komm, setz dich zu mir», sagte sie freundlich.

Zögernd nahm Jakob Platz. Die Frau strahlte eine Ruhe aus, die ihm gefiel. Sie sah ihn lange an, als könnte sie in sein Herz schauen. «Du suchst etwas, nicht wahr?», fragte sie.

Jakob nickte. «Ich glaube, ich suche den Stein des Herzens», sagte er leise, überrascht, dass er diese Worte aussprach.

Die Frau lächelte wieder. «Der Stein des Herzens, ja… Manche sagen, er bringe unendliches Wissen, andere glauben, er verleihe unendliche Macht. Aber in Wahrheit», sie beugte sich näher zu Jakob, «ist der Stein des Herzens etwas viel Einfacheres. Es ist die Fähigkeit, sich selbst zu erkennen und zu akzeptieren.»“

Jakob schwieg. Er dachte darüber nach, was die Frau gesagt hatte. Sich selbst zu erkennen und zu akzeptieren – das klang so einfach, aber für ihn war es ein Rätsel.

«Wenn du willst», fuhr die Frau fort, «kannst du dich auf die Suche nach diesem Stein begeben. Doch du wirst keine Landkarte finden und kein anderer wird dir den Weg zeigen können. Aber manchmal», sie zeigte auf eine Elster, die neugierig auf einem Ast sass, «haben Vögel mehr Weisheit, als wir denken.»

Mit diesen Worten verabschiedete sich die alte Frau und liess Jakob allein auf der Bank zurück. Die Elster hüpfte näher und sah ihn schief an. «Na, du willst also den Stein des Herzens finden?», krächzte sie plötzlich.

Jakob sprang auf. «Du kannst sprechen!»

«Natürlich kann ich das», erwiderte die Elster gelangweilt. «Und wenn du mir folgst, zeige ich dir vielleicht den Weg.»

Und so begann Jakobs Reise. Die Elster, die sich Mirka nannte, führte ihn tief in den Park, zu einem alten Brunnen, der von Efeu überwuchert war. «Schau in das Wasser», forderte Mirka ihn auf. «Was siehst du?»

Zögernd beugte sich Jakob über den Rand des Brunnens und blickte in das dunkle Wasser. Zuerst sah er nur sein eigenes Spiegelbild. Doch dann begann es sich zu verändern. Er sah eine mutige Version von sich selbst, stark und voller Selbstvertrauen. «Das bin ich nicht», flüsterte Jakob.

«Doch», antwortete Mirka. «Das bist du. Die Frage ist: Bist du bereit, es zu akzeptieren?»

Jakob schwieg. Die Antwort schien ihm schwer. Er hatte sich so lange für unbedeutend gehalten, dass der Gedanke, jemand anders zu sein, ihm fremd vorkam.

«Du wirst es herausfinden», sagte Mirka. «Doch die Suche endet nicht hier.»

Gemeinsam gingen sie weiter, bis sie an einen stillen, klaren See kamen. «Das ist der See der Wahrheit», erklärte Mirka. «Hier wirst du den Stein des Herzens finden, wenn du bereit bist, dich so zu sehen, wie du wirklich bist.»

Jakob trat zögernd ans Ufer und blickte ins Wasser. Diesmal sah er nicht nur sich selbst, sondern all seine Unsicherheiten, seine Ängste und Zweifel. Doch er sah auch seine Stärken: seine Güte, seine Träume und seinen Mut. «Ich akzeptiere mich», sagte er schliesslich leise.

In diesem Moment begann das Wasser zu leuchten, und auf einer kleinen Insel in der Mitte des Sees erschien ein strahlender Stein. Jakob wusste, dass er den Stein nicht mit den Händen berühren musste – er hatte ihn bereits gefunden. Denn der Stein des Herzens lag in ihm selbst, in der Fähigkeit, sich so zu lieben, wie er war.

Als Jakob zurück in die Welt ging, fühlte er sich leichter. Die Stimmen der Kinder, die früher wie Lärm erschienen, klangen nun wie Musik. Er sprach mit ihnen, spielte mit ihnen – und zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich nicht mehr allein. Der verwilderte Park, der ihm einst Zuflucht geboten hatte, war nun ein Ort der Entdeckung und der Freundschaft geworden.

Und so lernte Jakob, dass der wahre Stein des Herzens nicht in Macht oder Wissen lag, sondern in der Liebe zu sich selbst. Diese Erkenntnis trug er fortan immer in seinem Herzen.

 

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