Der lange Samstag

 

Eine Sage aus meinem Heimatdorf hat mich beflügelt, eine Geschichte darüber zu schreiben. Es geht dabei um eine Magd aus der Oberdörfer Mühle, die an einem Samstagnachmittag auf der «Baselmatt» Bohnen hat pflücken müssen und beim Zvieri nehmen eingeschlafen und erst am Sonntagmorgen wieder erwacht ist. Meine Geschichte folgt jedoch nicht getreu der überlieferten Sage.

Es war ein ruhiger Samstagmittag, als in der Mühle von Oberdorf die Nachricht eintraf, dass am Sonntag Besuch aus Basel kommen würde: Die Schwester des Müllers, ihr Mann und die vier Kinder hatten sich angekündigt. Die Müllerin wusste sofort, was sie servieren wollte – Schmalzbohnen mit Speck, neue Kartoffeln und Gurkensalat, gefolgt von Gugelhopf für die Kinder und starkem Kaffee mit Kirsch für die Erwachsenen. Doch für das Festessen mussten zuerst die Bohnen gepflückt werden, und diese Aufgabe fiel der Magd Marie zu.

Marie, die mit solchen Besuchen nichts anfangen konnte, verzog das Gesicht, als man ihr die Anweisung gab. Sie wusste, dass der Besuch für sie bedeutete, den ganzen Sonntagnachmittag in der Küche zu verbringen, um Geschirr zu spülen und die Reste zu beseitigen – und am Ende bekam sie nicht einmal ein «Danke». Aber Marie hatte keine Wahl. Sie musste auf die «Baselmatt» gehen, den hochgelegenen Gemüsegarten, um die Bohnen zu holen, die der Stolz der Müllerin waren.

Am späten Nachmittag, als die Sonne bereits tiefe Schatten warf, machte sich Marie auf den Weg zur Anhöhe. Die Stangenbohnen standen prächtig da, aber ihre Laune war nicht besser geworden. Sie pflückte nur langsam und ärgerte sich über den anstehenden Besuch, der ihr den Sonntag verderben würde. Wenn Marie schlecht gelaunt war, arbeitete sie wie eine störrische Eselin.

Vom benachbarten Bauernhof her drangen metallische Klänge zu ihr herüber: Der Knecht Josef dengelte seine Sense, um das Gras für den nächsten Morgen zu mähen. Als er kurz aufblickte, sah er Marie zwischen den Bohnenstauden. Ein Schmunzeln zog über seine Lippen, aber er arbeitete weiter. Der Tag neigte sich dem Ende zu, und er wollte Feierabend machen.

Während Marie die Bohnen zupfte, hielt sie immer wieder inne, um zu Josef hinüberzuschauen. Sie mochte ihn, auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte. Josef arbeitete in gleichmässigen Zügen weiter, aber auch er dachte an Marie. Er überlegte, ob er ihr helfen sollte. Die höchsten Bohnen konnte sie sicher nicht erreichen. Sollte er hinübergehen und sie auf seine Schultern heben? Doch etwas hielt ihn zurück. Vielleicht war es der Gedanke an die Worte seiner Mutter, die ihm eingeschärft hatte, nicht wie sein Vater zu werden, der sich auf jede Liebschaft einliess. «Sei vorsichtig», hatte sie gesagt. «Manches sieht verlockend aus, aber es bringt nichts Gutes.»

Josef schob das frisch geschnittene Gras zu Haufen zusammen und lud es auf den «Schneggen», ein Fuhrwerk mit vorderen Kufen, das in der Gegend oft verwendet wurde. Mit kräftigen Zügen zog er das Gras den Hügel hinunter, machte Halt, lehnte sich an das Gefährt und sah hinüber zu den Bohnenstauden. Marie arbeitete immer noch. Er überlegte kurz, ob er zu ihr gehen sollte, doch er entschied sich dagegen und zog das Gras in die Scheune.

Marie hatte inzwischen den Korb fast bis zum Rand mit Schmalzbohnen gefüllt. Sie sah Josef dabei zu, wie er das Gras wegschaffte, und hoffte, er würde noch zu ihr kommen. Doch als es dämmerte und er nicht kam, wurde sie müde. Sie setzte sich neben ihren Korb und lehnte sich gegen eine der Bohnenstangen. Es war angenehm kühl geworden, und die Ruhe der abendlichen Felder umfing sie. Langsam fielen ihr die Augen zu, und bald schlief sie tief und fest.

Als Marie am nächsten Morgen aufwachte, glaubte sie, nur einen kurzen Moment gedöst zu haben. Sie streckte sich, nahm ihren Korb und machte sich auf den Heimweg. Doch irgendetwas war anders. Die Luft war frischer, und vom St. Peter her hörte sie Glocken läuten. Verwundert schaute sie zum Kirchturm. Der Zeiger stand auf Viertel vor acht. Es schien viel später, als sie gedacht hatte.

Auf dem Weg begegnete sie dem Sigrist, der in seinem Sonntagsanzug unterwegs war. «Ihr geht wohl den Samstag ausläuten?», fragte sie ihn, als sie an ihm vorbeiging. Der Sigrist blieb stehen und sah sie mit grossen Augen an.

«Den Samstag?», wiederholte er. «Ich läute gleich den Sonntag ein! Du musst tief und lange geschlafen haben, Marie. Es ist Sonntagmorgen!»

Marie blieb wie angewurzelt stehen. «Sonntag?», stammelte sie. Sie war in den Bohnenstauden eingeschlafen und hatte tatsächlich die ganze Nacht durchgeschlafen! Ohne ein weiteres Wort machte sie sich auf den Weg zurück zur Mühle, wo die Müllerin sicher schon ungeduldig auf die Bohnen wartete.

Als sie die Mühle erreichte, war die Müllerin bereits mit den Vorbereitungen für den Basler Besuch beschäftigt. Sie schickte Marie einen strengen Blick zu, sagte aber nichts. Marie konnte die Blicke der anderen Angestellten spüren, die sich ein Lachen nicht verkneifen konnten. Es dauerte nicht lange, bis sich die Geschichte von ihrem «langen Samstag» im ganzen Dorf verbreitete, und in den kommenden Tagen machten die Leute so manchen Scherz auf ihre Kosten.

Doch während der Spott Maries Alltag begleitete, dachte sie nur daran, wie merkwürdig die Zeit manchmal vergehen konnte. Manchmal schien sie stillzustehen, nur um dann plötzlich davonzufliegen, und was bleibt, ist die Hoffnung, dass das Leben immer neue Chancen bereithält – auch für eine Magd, die einmal einen Samstag in den Bohnen verschlief.

 

2 Kommentare

  1. Iris

    Schöne Geschichte. Schmunzelgeschichte. Danke!

  2. Hanspeter Gautschin

    Danke Iris! Ich hab‘ mich bei dieser Geschichte ein bisschen im Naturalismus geübt…

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Ich bin Hanspeter Gautschin, Erzähler und Autor von BodeständiX – Geschichten, die bleiben.

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