Heute möchte ich ein Märchen mit euch teilen, das mir mein Vater einst erzählte. Woher er diese Geschichte hatte, weiss ich leider nicht mehr. Trotzdem hoffe ich, dass sie euch genauso verzaubert wie mich damals.

In der Hauptstadt seines Landes lebte ein guter und gerechter König. Oft verkleidete er sich und ging unerkannt durch die Strassen, um zu erfahren, wie es um sein Volk stand.

Warum er das tat? Nun, ein König, der nur in seinem Palast sitzt und vom Thron herab regiert, der weiss oft nicht, wie es wirklich aussieht in seinem Reich. Unser König jedoch war klug und weise und wollte die Sorgen und Nöte seiner Untertanen aus erster Hand erfahren. Er setzte sich also eine einfache Mütze auf, zog einen abgetragenen Mantel an und mischte sich unter das Volk.

Eines Abends, es war schon spät und die Sterne funkelten wie Diamanten am Himmel, ging er vor die Tore der Stadt. Ein Lichtschein fiel aus einer Hütte und der König, neugierig wie er war, schlich näher. Durch das Fenster sah er einen Mann, der allein an einem Tisch sass, das Mahl war bereits bereitet. Der Mann sang gerade einen Lobpreis zu Gott über das einfache Mahl. Nachdem er geendet hatte, klopfte der König an die Tür: «Darf ein Gast eintreten?» – «Gerne», sagte der Mann, «komm herein, mein Mahl reicht für uns beide!» Der König trat ein und setzte sich zu ihm. Während des Mahles sprachen sie über dies und das. Der König, der noch immer unerkannt war, fragte: «Wovon lebst du? Was ist dein Gewerbe?» – «Ich bin Flickschuster», antwortete der Mann mit einem Lächeln. «Jeden Morgen gehe ich mit meinem Handwerkskasten durch die Stadt und die Leute bringen mir ihre Schuhe zum Flicken.»

«Und was wird morgen sein, wenn du keine Arbeit bekommst?» fragte der König. «Morgen?», sagte der Flickschuster fröhlich, «Morgen? Gott sei gepriesen Tag um Tag!»

Am nächsten Morgen, als der Flickschuster in die Stadt ging, sah er überall angeschlagen: «Befehl des Königs! In dieser Woche ist auf den Strassen meiner Stadt jede Flickschusterei verboten!» Der Schuster kratzte sich am Kopf. «Sonderbar», dachte er, «was doch die Könige für seltsame Einfälle haben! Nun, dann werde ich heute Wasser tragen; Wasser brauchen die Leute jeden Tag.»

Am Abend hatte er so viel verdient, dass es für beide zur Mahlzeit reichte. Der König, wieder zu Gast, sagte: «Ich hatte schon Sorge um dich, als ich die Anschläge des Königs las. Wie hast du dennoch Geld verdienen können?» Der Schuster erzählte von seiner Idee, Wasser für jedermann zu holen und zu tragen, und die Leute entlohnten ihn dafür. Der König fragte wieder: «Und was wird morgen sein, wenn du keine Arbeit findest?» – «Morgen? Gott sei gepriesen Tag um Tag!»

Am nächsten Morgen, als der Schuster in die Stadt ging, um wieder Wasser zu tragen, kamen ihm Herolde entgegen, die riefen: «Befehl des Königs! Wassertragen dürfen nur solche, die eine Erlaubnis des Königs haben!» Der Schuster lachte leise. «Sonderbar», dachte er, «was doch die Könige für seltsame Einfälle haben! Nun, dann werde ich Holz zerkleinern und in die Häuser bringen.» Er holte seine Axt, und am Abend hatte er so viel verdient, dass das Mahl für beide bereitet war. Wieder fragte der König: «Und was wird morgen sein, wenn du keine Arbeit findest?» – «Morgen? Gott sei gepriesen Tag um Tag!»

Am nächsten Morgen kam dem Flickschuster in der Stadt ein Trupp Soldaten entgegen. Der Hauptmann sagte: «Du hast eine Axt. Du musst heute im Palasthof des Königs Wache stehen. Hier hast du ein Schwert, lass deine Axt zu Hause!»

Nun musste der Flickschuster den ganzen Tag Wache stehen und verdiente keinen Rappen. Abends ging er zu seinem Krämer und sagte: «Heute habe ich nichts verdienen können. Aber ich habe heute Abend einen Gast. Ich gebe dir das Schwert…» – er zog es aus der Scheide – «…als Pfand! Gib mir, was ich für das Mahl brauche.» Als er nach Hause kam, ging er zuerst in seine Werkstatt und fertigte ein Holzschwert, das genau in die Scheide passte.

Der König wunderte sich, dass auch an diesem Abend wieder das Mahl bereitet war. Der Flickschuster erzählte alles und zeigte dem König verschmitzt das Holzschwert. «Und was wird morgen sein, wenn der Hauptmann die Schwerter inspiziert?» – «Morgen? Gott sei gepriesen Tag um Tag!»

Am nächsten Morgen, als der Schuster den Palasthof betrat, kam ihm der Hauptmann entgegen, an der Hand einen gefesselten Gefangenen: «Das ist ein Mörder. Du sollst ihn hinrichten!» – «Das kann ich nicht», rief der Schuster voller Schrecken aus. «Ich kann keinen Menschen töten!» – «Doch, du musst es! Es ist Befehl des Königs!»

Inzwischen hatte sich der Palasthof mit vielen Neugierigen gefüllt, die die Hinrichtung eines Mörders sehen wollten. Der Schuster schaute in die Augen des Gefangenen. Ist das ein Mörder? Dann warf er sich auf die Knie und mit lauter Stimme, so dass alle ihn beten hörten, rief er: «Gott, du König des Himmels und der Erde: wenn dieser Mensch ein Mörder ist und ich ihn hinrichten soll, dann mache, dass mein Schwert aus Stahl in der Sonne blitzt! Wenn aber dieser Mensch kein Mörder ist, dann mache, dass mein Schwert aus Holz ist!»

Alle Menschen schauten atemlos zu ihm hin. Er zog das Schwert, hielt es hoch – und siehe: es war aus Holz. Gewaltiger Jubel brach aus. In diesem Augenblick kam der König von der Freitreppe seines Palastes, ging geradewegs auf den Flickschuster zu, gab sich zu erkennen, umarmte ihn und sagte: «Von heute an sollst du mein Ratgeber sein!»

Und so geschah es, dass der kluge und gerechte König einen ebenso klugen und gerechteren Ratgeber fand. Und beide wussten, dass das Leben manchmal seltsame Einfälle hat, aber dass man mit Vertrauen und einem fröhlichen Herz alles überstehen kann. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute und preisen Gott Tag um Tag!

 

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