Der Gockel und der Geierhannes

Draussen plätscherte der Regen sein monotones Lied, Nebelfetzen trieben über den Dielenberg. Ein paar ältere Herren hatten sich im Jägerstübli zu Oberdorf versammelt und kramten zum Zeitvertreib in ihren Erinnerungen.

Ich war damals mit meinem Vater dort und wir sassen zusammen an einem Nebentisch. Während er in ein Gespräch vertieft war, lauschte ich den Anekdoten der alten Männer mit Interesse und einem Schmunzeln. Soeben wurde eine Pointe mit schallendem Gelächter quittiert, als der Nächste aus der Reihe zu erzählen begann. Diese eine Geschichte ist mir besonders in Erinnerung geblieben:

«Es mögen gewiss vierzig Jahre seither verflossen sein» – ein genussvoller Zug aus der Brissago gab ihm die nötige Zeitspanne zum Nachdenken – «als ich auf einer kleinen Landstation im Bernbiet als Beamter wirkte. Die Fahrgäste waren damals noch selten. Meist waren es fahrende Händler, die in dem eine halbe Stunde entfernten Nestchen ihren Geschäften nachgingen. Unter diesen fiel mir besonders ein kleines, struppiges Männchen auf, dessen graue Augen gierig wie die eines Geiers aus dem ledernen Gesicht stachen. Seine struppigen Haare bedeckte ein verwaschener Filzhut, die Haltung war wie lauernd gebeugt. Der Volksmund wollte wahrhaben, dass der geizige Geierhannes, so wurde er genannt, sich beim Handel mit Federvieh ein ansehnliches Vermögen zusammengerackert habe. Dieses Gerücht konnte ich allerdings nicht nachprüfen, doch lieferte er mir persönlich ein unvergessliches Beispiel seines Geizes.

Eines Tages traf er wieder einmal mit einem Käfig voller Hühner auf der Station ein, die er im Dorfe eingehandelt hatte, um sie in der Stadt in bare Münze umzutauschen. Wohl mochte er bereits seinen Profit ausrechnen, denn er merkte nicht, wie ein Hahn verzweifelte Fluchtversuche aus seinem Käfig unternahm. Nach einigem Scharren und einem energischen Ruck war der Weg zur Freiheit offen. Heftig gackernd suchte der Flüchtling das Weite.

Nun war auch der Geierhannes aufmerksam geworden. Mit seinen krummen Beinchen machte er sich auf die Verfolgung. Ich beobachtete vom Schalter aus die Jagd und war wirklich gespannt, ob sich der Gockel wieder einfangen liesse. Nachdem der Geierhannes wohl ein Dutzendmal den Gockel eingeholt hatte, ohne ihn zu erwischen, begab er sich zu mir an den Schalter und versprach mir einen Franken, wenn ich den Ausreisser einfange.

Ich besann mich nicht lange und stob wie eine Furie hinter dem Hahn her, den ich alsbald in einer Hecke in die Enge treiben und einfangen konnte. Siegesbewusst, mich auf das schöne Trinkgeld freuend, kehrte ich mit meinem Opfer zurück. Doch bereits war wieder der Geiz im Geierhannes erwacht.

«Du hast eigentlich keine grosse Mühe gehabt», empfing er mich, «gib dich mit einem Fünfziger zufrieden!» Sprach’s und nestelte gleichzeitig einen Fünfziger aus seinem prallgefüllten Geldbeutel.
Ich aber betrachtete meine im Gestrüpp zerschundenen Hände und, der Erzählende schlug die Arme auseinander, während seine Augen vor Vergnügen strahlten, gab den Gockel wieder frei, der natürlich in höchster Eile davonflatterte!

Das allerdings hatte der Geierhannes nicht erwartet. Zeternd und geifernd bot er mir zwei Franken, wenn ich den Gockel noch einmal einfange – doch sein Angebot kam zu spät – der von Geierhannes erwartete Zug fuhr auf der Station ein! Schimpfend wie ein Rohrspatz stieg er mit seinem Hühnerkäfig in den Zug, mich und den Gockel verwünschend.

Der Geierhannes bekam dann seinen Gockel trotzdem. Fein säuberlich in eine Kartonschachtel verpackt, habe ich ihn ihm nachgesandt, mit der versprochenen Fanggebühr belastet.

Als er das nächste Mal zum Hühnerkauf im Dorfe eintraf, kam der Geierhannes zu Fuss. Auf die erstaunte Frage einer Kundin gab er nur brummend zur Antwort, dass er zwei Franken einsparen müsse, die ihm auf schäbige Art abhandengekommen seien.

 

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Ich bin Hanspeter Gautschin, Erzähler und Autor von BodeständiX – Geschichten, die bleiben.

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