Was bleibt, wenn das Paradies fehlt?

Warum sind gerade in den wohlhabendsten Gesellschaften so viele Menschen innerlich erschöpft? Warum wirkt das Morgen nicht mehr tröstlich – sondern leer?

Dieses Essay geht der Frage nach, ob die moderne Depression ein Echo verlorener Hoffnungen ist. Und ob es einen anderen Weg geben könnte: jenseits des Wartens, mitten im Jetzt.

Lange Zeit lebte der Mensch nicht im Heute – sondern im Morgen.

Die Gegenwart war oft schwer: Arbeit, Entbehrung, Mühsal. Doch man hielt durch. Denn irgendwo am Horizont wartete das Versprechen: eines Tages wird es besser. Es gibt ein Ziel, ein Paradies, eine Zukunft.

Dieses Morgen konnte ganz unterschiedlich aussehen:
Für die Gläubigen war es das Jenseits, das himmlische Reich, der Garten Eden.
Für die Idealisten war es die gerechte Gesellschaft, die Revolution, die Befreiung der Menschheit.
Doch gemeinsam war ihnen allen eines: Die Hoffnung.

Diese Hoffnung war ein Licht, das den Schatten des Alltags durchbrach. Sie war ein Seelentrick, ein Überlebensmechanismus. Das Elend von heute liess sich ertragen, weil morgen alles anders sein würde.

Doch was geschieht, wenn dieses Morgen ausbleibt?

In den letzten Jahrzehnten ist etwas ins Wanken geraten.

Die grossen politischen Utopien sind gescheitert. Die Heilsversprechen der Religionen verlieren an Kraft. Der technische Fortschritt hat uns vieles gebracht – nur nicht die innere Erfüllung.

Besonders in den wohlhabenden Teilen der Welt hat der Mensch fast alles erreicht, was er sich einst ersehnte: Konsumfreiheit, Sicherheit, Individualität. Und doch macht sich eine seltsame Leere breit.

Das Morgen ist da – aber das Glück blieb aus.

Diese Ernüchterung hat viele Gesichter. Eines davon heisst: Depression.

Depression ist nicht nur ein persönliches Leiden. Sie ist auch ein kulturelles Symptom.
Ein Echo, das ertönt, wenn der grosse Traum zerbricht.

Früher konnte der Mensch das Leid des Tages an ein besseres Morgen delegieren. Heute ist da oft nichts mehr, woran sich dieser Glaube heften könnte. Das Paradies – egal ob im Himmel oder auf Erden – hat seine Leuchtkraft verloren.

Und so ist der moderne Mensch mit etwas konfrontiert, das frühere Generationen kaum kannten: eine Gegenwart ohne Trost.

In Ländern, wo Armut und Not den Alltag bestimmen, ist die Depression selten. Dort lebt die Hoffnung noch – vielleicht als Illusion, vielleicht als Notwendigkeit. Aber sie trägt.

In den sogenannten entwickelten Gesellschaften hingegen ist der Glaube an das grosse Später erodiert.
Was bleibt, ist ein leerer Raum. Und dieser Raum tut weh.

Viele versuchen, ihn mit Aktivität zu füllen, mit Ablenkung, Konsum, Karriere. Aber der innere Hunger bleibt.

Denn der Mensch hat verlernt, im Jetzt zu leben.

Vielleicht ist die Depression – so paradox es klingt – eine Einladung. Eine Einladung, nicht mehr im Morgen zu suchen, sondern im Heute zu verweilen.

Nicht in Träumen, sondern in Wahrnehmung. Nicht in Konzepten, sondern im Atem.

Wenn es kein Paradies mehr zu erwarten gibt – dann bleibt nur eines: anzukommen im eigenen Leben.

 

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Ich bin Hanspeter Gautschin, Erzähler und Autor von BodeständiX – Geschichten, die bleiben.

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