In einer kleinen Stadt lebte ein altes Mütterlein. Die bescheidene Wohnung, in der sie wohnte, war schlicht, aber stets gepflegt, und so spiegelte sie den Geist ihrer Bewohnerin wider: arm an Besitz, aber reich an Herz.
Das Leben hatte sie geprüft, ihr Schicksal auferlegt, das sie in Demut trug. Ihr Mann war seit Jahren heimgegangen, und ihre Kinder, inzwischen erwachsen, hatten ihren Weg in die Welt gefunden. Doch einer, ihr jüngster Sohn, hatte diesen Weg verloren.
Schon als Junge hatte Franz eine ungestüme Energie gezeigt, einen Drang, die Welt zu erforschen, Regeln zu hinterfragen. Während seiner Lehrzeit in einer westschweizerischen Stadt aber hatten ihn falsche Freunde auf Abwege gebracht. Zuerst waren es nur harmlose Streiche, doch bald verfing er sich tiefer in einem Netz aus Versuchung und Unmoral. Seine Mutter hatte es geahnt, noch bevor die ersten spitzen Worte aus der Verwandtschaft kamen. Sie wusste, wie schwach und zugleich wie trotzig er sein konnte. Als dann die Nachricht kam, dass er wegen einer Unterschlagung seinen Arbeitsplatz verloren hatte, brach ihre Welt ein weiteres Mal zusammen.
Dennoch gab sie ihn nie auf. «Gott ist grösser als unsere Sünde», sagte sie sich immer wieder, wenn die Nächte einsam und die Sorgen übermächtig wurden. Während Franz von Stadt zu Stadt zog, arbeitssuchend und innerlich zerrissen, kniete sie in ihrem Kämmerlein nieder und betete. Jede Träne, die sie vergoss, war ein stummes Flehen um Erlösung, um einen neuen Anfang für ihren Sohn.
Die Wintertage krochen kalt und schwer heran. Ein grauer Nebel lag über den Hügeln des Jura, als Franz, von Hunger und Kälte gezeichnet, durch die engen Wege eines abgelegenen Dorfes zog. Seine Schuhe, längst durchlöchert, liessen den Frost an seine Füsse. Irgendwann blieb er vor einem grossen Bauernhof stehen, der trotz des trüben Wetters eine seltsame Geborgenheit ausstrahlte. Mit klopfendem Herzen trat er an die schwere Holztür heran und pochte schliesslich vorsichtig dagegen. Die Bäuerin, eine Frau mit freundlichem Gesicht, öffnete, musterte ihn kurz und lud ihn ohne zu zögern ein.
«Komm erst einmal herein», sagte sie und liess ihn an den grossen Küchentisch sitzen, wo der Duft von frischem Brot und heissem Tee die Luft erfüllte. «Iss etwas und wärme dich auf.» Ihre Güte traf Franz wie ein Schlag. Er, der seit Wochen nur Verachtung oder Gleichgültigkeit erfahren hatte, wusste zunächst nicht, wie er darauf reagieren sollte. Während er ass, musterte die Frau ihn mit prüfendem Blick.
«Hast du einen Platz zum Schlafen?» fragte sie schliesslich.
Er schüttelte den Kopf. Die Worte blieben ihm im Hals stecken. «Ich kann morgen früh weiterziehen», fügte er leise hinzu.
Die Bäuerin nickte nur und wies ihm eine Dachkammer zu. Es war ein einfacher Raum mit einem kleinen Bett und einem schlichten Holztisch, aber für Franz fühlte es sich wie ein Palast an. Die Wärme der Decken, das Flüstern des Windes draussen – es war mehr, als er zu hoffen gewagt hatte.
Am nächsten Morgen weckte ihn das Licht der Sonne, das in goldenen Streifen durch das Fenster fiel. Für einen Moment spürte Franz etwas, das er längst vergessen hatte: Hoffnung. Doch als sein Blick auf seine zerlumpten Kleider fiel, holte ihn die Realität ein. Er wollte sich bedanken und schnell verschwinden, bevor die Scham ihn überwältigte. Doch die Bäuerin hielt ihn auf.
«Bleib zum Frühstück», sagte sie bestimmt, ohne auf seinen protestierenden Blick zu achten. Sie stellte ihm Kaffee und frisch gebackenes Brot hin, und er nahm es dankbar an.
«Wie alt bist du eigentlich?» fragte sie während des Essens.
«Dreiundzwanzig», antwortete Franz zögernd.
Die Frau schwieg eine Weile. Dann sagte sie mit einer Sanftheit, die ihn überraschte: «Mein Sohn wäre jetzt in deinem Alter.» Sie sah aus dem Fenster, und für einen Moment war es, als sähe sie einen anderen Menschen vor sich. Ihr Sohn war vor einigen Jahren an einer schweren Krankheit gestorben, und die Lücke, die sein Verlust hinterlassen hatte, war nie geschlossen worden.
«Wohin willst du gehen?» fragte sie schliesslich.
«Ich weiss es nicht», murmelte Franz.
Da bot sie ihm an, zu bleiben. «Arbeit gibt es hier genug», sagte sie. «Und du brauchst einen Ort, an dem du wieder zu Kräften kommen kannst.»
Zuerst wusste Franz nicht, ob er es annehmen sollte. Doch in den Augen dieser Frau lag etwas, das ihn berührte. Er nickte schliesslich. «Ich danke Ihnen», sagte er leise, und zum ersten Mal seit langem fühlte er sich nicht allein.
Die Wochen vergingen, und Franz begann, in den Rhythmus des Bauernhofs einzutauchen. Er arbeitete hart, half auf dem Feld, kümmerte sich um die Tiere und reparierte Geräte. Die frische Luft und die regelmässige Arbeit stärkten nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Seele. Er fühlte, wie sich ein Stück Frieden in sein aufgewühltes Herz legte.
Als der Heilige Abend näherkam, herrschte auf dem Hof eine besondere Stimmung. Die Bäuerin und ihr Mann holten aus dem Wald einen Tannenbaum, den sie in der grossen Stube aufstellten. Am Abend schmückten sie ihn gemeinsam mit Kerzen, Nüssen und kleinen Holzfiguren. Der Bauer, die Bäuerin, die Knechte und Mägde und Franz versammelten sich um den Baum, und einer nach dem anderen trug ein Lied oder eine Geschichte vor. Schliesslich las die Bäuerin die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium vor. Die Worte über das Licht, das in die Welt gekommen war, trafen Franz tief ins Herz.
Nach der Feier legte die Bäuerin ihm die Hand auf die Schulter. «Du hast bestimmt eine Mutter, die für dich betet, nicht wahr?» fragte sie.
Franz nickte. Die Tränen, die er sonst so lange unterdrückt hatte, liefen nun frei über sein Gesicht. «Ja», flüsterte er. «Ich weiss, dass sie immer noch auf mich wartet.»
«Dann schreib ihr», sagte die Frau sanft. «Schreib ihr, dass es dir gut geht. Und dass du bald nach Hause kommen wirst.»
Noch in dieser Nacht setzte sich Franz hin und schrieb den ersten Brief an seine Mutter seit Jahren. Er erzählte ihr von dem Bauernhof, von der Güte der Bäuerin und von dem Frieden, den er langsam in sich spürte. Mit jedem Wort fühlte er, wie eine Last von seinen Schultern fiel.
Die Wochen nach Weihnachten vergingen schnell, und Franz fand immer mehr zu sich selbst. Doch eines Abends, als er mit der Bäuerin in der Küche sass, sprach sie ihn direkt an: «Franz, was hält dich davon ab, nach Hause zu gehen?»
Er sah sie an, und sie erkannte den Kampf in seinen Augen. «Ich habe so viel falsch gemacht», sagte er schliesslich. «Wie kann ich zurückkehren, nach all dem, was ich getan habe?»
Die Frau nahm seine Hand. «Deine Mutter liebt dich. Das spürt man. Und Mutterliebe vergibt. Sie hat sicher nur einen Wunsch: dich wieder in ihre Arme zu schliessen.»
Diese Worte blieben in Franzs Gedanken, und wenige Wochen später fasste er den Entschluss. Mit zitternden Händen schrieb er seiner Mutter, dass er nach Hause kommen würde.
Es war ein klarer Wintermorgen, als Franz die kleine Stadt erreichte, die er vor so langer Zeit verlassen hatte. Die Strassen waren ihm fremd geworden, aber das kleine Haus seiner Mutter erkannte er sofort. Zögernd klopfte er an die Tür. Als sie öffnete und ihn sah, zögerte sie keinen Moment. Sie schloss ihn in ihre Arme, und es war, als ob all die Jahre des Leids in diesem Moment vergingen.
«Das Licht hat dich zurückgebracht», flüsterte sie, während Tränen der Freude ihre Wangen hinabliefen.
An diesem Abend sangen sie gemeinsam ein altes Weihnachtslied, und in ihren Herzen war Frieden.
P.S.: Diese Weihnachtsgeschichte habe ich Mitte der 80er Jahre bei einer Weihnachtsfeier mit Jugendlichen gehört. Gemeinsam mit einem Jugendseelsorger und einem Pfarrer wurde sie von letzterem erzählt. Ich habe sie aus meiner Erinnerung niedergeschrieben.
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