Das Licht der Freude

Mitten in einem abgelegenen Wald lebten drei Schwestern. Ihre Namen waren Glaube, Liebe und Hoffnung – nicht, weil es alte Familiennamen waren, sondern weil ihr Vater überzeugt war, dass diese Tugenden das Wichtigste im Leben seien.

«Anna, Luise oder Marie sind ja schöne Namen,» hatte er oft gesagt, «aber sie sagen nichts über das aus, was wirklich zählt.» Also beschloss er, seinen Töchtern Namen zu geben, die ihre Lebenswege leiten sollten.

Die drei wuchsen behütet auf, und jede von ihnen hatte eine einzigartige Persönlichkeit. Glaube war still, besonnen und nachdenklich. Ihre blauen Augen schienen ein Stück Himmel zu spiegeln, wie ihr Vater stets rühmte. Liebe hingegen war voller Tatendrang und Mitgefühl. Kein Streit blieb ungelöst, wenn sie da war; sie fand immer die richtigen Worte und packte mit an, wo immer Hilfe nötig war. Hoffnung war die Leichtfüssige, ein wahres Freigeistkind. Sie tanzte durch den Wald, flocht Blumenkränze und sang Lieder, die von Freiheit und Freude erzählten. Aber sie hatte wenig Sinn für das Praktische, und während ihre Schwestern ihre Aufgaben mit Ernst und Hingabe erledigten, jagte sie den Rehen nach oder sammelte Sträusse, die schon am nächsten Tag verwelkten.

Als die Eltern starben, hinterliessen sie den Schwestern eine letzte Bitte: «Bleibt in Eintracht beieinander und helft euch gegenseitig, so wie es eure Namen versprechen.» Die drei hielten Wort. Glaube sorgte für Ordnung und besinnliche Stunden, Liebe war die Stütze des Haushalts, und Hoffnung? Nun, sie versuchte, ihren Schwestern eine Freude zu machen, aber ihre Bemühungen schlugen oft fehl. Einmal brachte sie giftige Pilze nach Hause, ein anderes Mal hielt sie einen Vogel in einem Käfig gefangen, bis Liebe ihn mitleidig freiliess.

Eines Abends, als Hoffnung wieder einmal enttäuscht war, kletterte sie auf eine hohe Buche, um die Weite des Himmels zu sehen. «Wie eng ist doch unser Zuhause,» dachte sie. «Die Welt ist so gross und voller Möglichkeiten. Und doch bin ich hier gefangen, ohne je wirklich etwas zu schaffen.» Doch anstatt zu verzweifeln, begann sie zu singen, und das Echo antwortete ihr. Für einen Moment schien der Wald weniger still und ihre Sorgen leichter.

Am nächsten Tag entdeckte sie das alte Spinnrad ihrer Mutter. «Vielleicht kann ich wenigstens spinnen lernen,» dachte sie. Und siehe da, ihre Hände fanden bald den Rhythmus. Während sie sang und spann, entstanden nicht nur feine Fäden, sondern auch Geschichten, die sie abends ihren Schwestern erzählte. Für eine Weile schien es, als hätten die drei ihren Platz gefunden.

Doch nach einiger Zeit wurde Hoffnung unruhig. Das Leben im Wald schien ihr eintönig, und sie spürte, dass auch ihre Schwestern insgeheim nach mehr verlangten. «Ihr solltet heiraten,» platzte sie eines Tages heraus. Glaube schaute sie entsetzt an, während Liebe nur errötete. Doch bevor sie antworten konnten, klopfte es an die Tür.

«Das ist sicher euer Prinz,» scherzte Hoffnung. Aber als Liebe öffnete, stand kein Prinz draussen, sondern ein kleines, verwahrlostes Mädchen. «Darf ich bei euch bleiben?» fragte es schüchtern.

Liebe nahm sie bei der Hand und führte sie hinein. Nachdem das Mädchen gegessen hatte, erzählte es seine Geschichte. «Ich komme aus der Stadt,» begann es. «Aber dort war es so laut und eng. Mein Vater, Frohsinn, und meine Mutter, Genügsamkeit, haben immer gesagt, dass ich ‚Lenchen‘ heisse, weil ich so klein bin. Doch als sie starben, wurde ich unglücklich. Die Leute in der Stadt wollten, dass ich lache und fröhlich bin, aber ich konnte nicht. Also bin ich weggelaufen.»

Die Schwestern schlossen das Mädchen sofort ins Herz. «Du sollst unser kleines Lenchen sein,» sagte Liebe sanft. Und so begann ein neues Kapitel im Leben der drei. Lenchen brachte eine Freude in ihr Zuhause, die sie lange vermisst hatten. Sie half beim Kochen, putzte mit kindlicher Begeisterung und lachte über ihr eigenes Spiegelbild im glänzenden Pfannendeckel. Ihre Lebensfreude war ansteckend, und selbst Hoffnung fühlte sich wieder leichter.

Eines Tages kletterten sie zusammen auf einen Hügel, um den Sonnenuntergang zu beobachten. Die Welt lag weit und still vor ihnen, und Lenchen sagte nachdenklich: «Es ist so schön hier. Aber ich kann nicht bleiben. Ich muss hinaus in die Welt, um andere glücklich zu machen.» Die Schwestern sahen das Mädchen an und erkannten, dass aus ihrem kleinen Lenchen eine starke, leuchtende Persönlichkeit geworden war.

«Wie gern würde ich mit dir gehen,» seufzte Hoffnung. Da lächelte Lenchen und sagte: «Ihr müsst es nur wollen, dann könnt ihr fliegen.» Und tatsächlich – die Schwestern spürten plötzlich eine Leichtigkeit, als könnten sie mit den Wolken ziehen.

«Aber wohin sollen wir fliegen?» fragte Glaube. Lenchen schaute sie an. «Nicht in den Himmel – dort gibt es genug Engel. Gehen wir zu den Menschen, die Freude vergessen haben.»

Die Schwestern umarmten sie, und in diesem Moment war klar, dass sie nicht mehr Lenchen hiess. «Du bist keine kleine Schwester mehr,» sagte Glaube. «Wie sollen wir dich nennen?» Mit einem Lächeln antwortete sie: «Ich bin Freude.»

Von da an flogen die vier hinaus in die Welt, um Liebe, Hoffnung, Glaube und Freude zu verbreiten. Und wenn ihr genau hinseht, könnt ihr sie manchmal spüren – in einem Lachen, einem Sonnenstrahl oder einem freundlichen Wort. Haltet eure Herzen offen, denn die Freude ist klein, aber sie schenkt Grosses.

 

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Ich bin Hanspeter Gautschin, Erzähler und Autor von BodeständiX – Geschichten, die bleiben.

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