An die Himmelstür klopfte der Tod, mit drei Seelen an seiner Seite, die er auf ihrem letzten Weg begleitet hatte. «Ihr Wandel auf Erden war gut», sagte er, «sie sind würdig, vor Gottes Thron Gnade zu finden.»

Doch Petrus, der wusste, dass der Tod manchmal das Leben milderte und verschönerte, fragte nach, in welchen Schicksalskleidern diese drei Seelen – drei Frauenseelen – auf Erden gewandelt waren.

Die erste Seele trat vor und sprach: «Als ich ein Kind war, lebte ich im Hause meiner Eltern und folgte ihren Geboten. Ich war fleissig und folgsam, wie es das Gesetz verlangt. Später wurde ich die Gattin eines braven Mannes, dem ich alles gab, was ihm als sein Recht zustand. Ich hielt ihm die Treue und erzog unsere Kinder in Gottesfurcht, so wie mich meine Eltern erzogen hatten. Sie dankten es mir, als mein Gatte in den Frieden des Herrn einging. Ich blieb bei ihnen, half ihren Kindern, arbeitete mit meinen Händen und faltete sie im Gebet. So blieb mein Leben, bis der Tod mich rief.»

Die Seele verstummte, und Petrus musterte ihre klaren, schlichten Züge, in denen Wahrheit, Ruhe und Ordnung auf einfache Weise gemeisselt waren. Dann nahm er eine dichte Binde und legte sie um die Augen der Seele. «Du darfst eintreten in das Haus des Herrn», sagte er, «doch trage diese Binde, damit dich das Licht nicht blendet. Auf Erden bist du im Dämmerlicht gegangen, die Sonne unseres Himmels musst du erst lernen zu ertragen. Tritt ein.» Petrus öffnete das Tor, und die erste Seele überschritt zögernd die Schwelle.

Dann wandte sich Petrus zur zweiten Seele. Sie sprach: «Mein Weg auf Erden war froh und leicht. Spiel und Lachen erfüllten meine Kindheit, Freude und Jubel meine Ehe. Wir blieben allein, mein Mann und ich, ohne Kinder, und er wird nun einsam sein, weil ich von ihm gegangen bin. Von Sorgen und Not weiss ich nichts – sie kamen nie zu mir.»

«Und», fragte Petrus, «gingst du auch nicht, um sie bei anderen aufzusuchen, um sie zu vertreiben, soweit du es konntest, mit deinen reichen Kräften?»

«Nein», sagte die Seele, und in ihre grossen, leeren Augen trat Erstaunen. «Warum hätte ich das tun sollen? Es war ja alles gut und recht, so wie es war. Ich tat niemandem etwas zuleide und lebte froh und zufrieden – bis der Tod mich holte. Ich ging nicht gern mit ihm, es war schön auf Erden.»

Wieder betrachtete Petrus die Seele prüfend. Sie mochte in einer Frau gewohnt haben, deren Jugend längst vergangen war, doch die Seele trug noch kindliche Formen, nichts an ihr war stark und reif geworden – nur welke Knospen, in sich selbst vertrocknet und verblüht.

«Du magst eintreten», sagte Petrus, «aber hülle dich in diesen Schleier, er wird dich vor der Wärme unseres Lichtes schützen, die du nicht ertragen könntest, denn du bist auf Erden in einem kalten Tale gegangen.» Auch diese Seele überschritt die Schwelle des heiligen Reiches.

Die dritte Seele stand zögernd vor dem mächtigen Diener des Herrn, der nun seine ernsten Augen auf sie richtete. Ihr Antlitz trug keine einfachen, klaren Züge mehr, auch nichts Kindliches war in ihr verblieben. Schmerz, Angst, Not und Verzweiflung – die grossen Bildner – hatten diese Linien gezeichnet, und jeder von ihnen hatte seine ganze Kraft eingesetzt.

«Was weisst du über das Schicksalskleid dieser Seele?» fragte Petrus den Tod, denn er wusste wohl, dass es solchen Seelen Pein bereitet, von sich selbst zu sprechen.

«Sie hat gelitten», sagte der Tod, «seit sie ein kleines Mädchen war, und später als Frau – immer – bis ich kam und sie erlöste.»

Petrus nickte, auch das hatte er geahnt. Er fragte nur: «War es die Sehnsucht, die ihr Leiden verursachte?»

«Ja», sagte der Tod, «die grosse Sehnsucht. Sie war so voller Liebe – sie wollte so viel Liebe geben, allen Menschen und Tieren, aber niemand schätzte es, keiner erkannte, dass es Gold war, das ihre kleinen Hände so bereitwillig ausstreuten. Man verhöhnte sie – am lautesten spottete der Mann, den sie fand, als ihre Seele schon müde und ihr Herz wund war. Und doch hatte sie gerade für ihn einen Schatz bereit, so kostbar und unerschöpflich wie ein Märchenschatz. Und der Mann, ein Schatzgräber, suchte und suchte – die Sehnsucht war auch in ihm mächtig – doch er war blind, wenn er vor ihr stand, er sah nicht, was sie ihm zu geben hatte. Er trieb sie mit harten Worten und Taten von sich. Sie aber blieb in seiner Nähe, unermüdlich, geduldig, hoffnungsvoll. Und eines Tages griff er wirklich nach ihren Schätzen. Doch er verstand den Wert ihrer Gaben nicht, verstreute sie hierhin und dorthin, zerbrach die Krone, die sie ihm bot, und trat die schönsten Edelsteine so lange mit Füssen, bis sie in wertlosen Scherben mit dem Schmutz vermischt waren. Als sie nichts mehr hatte, schnitt er ihr langes, goldenes Haar ab, flocht eine Peitsche daraus und schlug ihr damit auf das Herz, bis es brach. Da nahm ich sie in meine Arme und trug sie hierher.»

«War keiner auf Erden, der ihr half?» fragte Petrus.

«Nein», sagte der Tod mit harter Stimme, «keiner. Denn das Wunderbare war: Jeder Blutstropfen, der aus ihrem wunden Herzen quoll, verwandelte sich in einen kleinen, seltsamen Vogel, der zum Entzücken der Menschen eine süsse, rätselhafte Weise sang. Und wo der Vogel sich zeigte, blieben die Leute stehen und lauschten seinem Gesang. Darum half ihr keiner – denn je mehr sie litt, je reichlicher ihr Blut floss, desto mehr Wundervögel gab es im Lande, desto mehr Lieder entstanden aus ihren Qualen. Ihre Sehnsucht und ihre Liebe haben Tausende getröstet und beglückt – nur sie selbst hat sich daran verblutet.»

«Und der Mann, um den sie dies alles litt?» fragte Petrus.

«Er liegt in den Armen einer anderen Frau und weiss nichts mehr von dem Herzen, das er gemartert hat», entgegnete der Tod.

«Liebe Seele», sagte Petrus und liess seine Augen forschend auf ihr ruhen, «du darfst eintreten in das Reich Gottes. Nichts wird mehr deinen Frieden stören. Der Mann, der dich misshandelt hat, wird bald sterben und seine Seele wird zur ewigen Verdammnis verurteilt werden.»

Ein banges Zittern erschütterte die arme Seele. «Herr, Gnade für ihn! Ist keine Gnade?» flehte sie.

Wieder blickte Petrus forschend auf die Flehende. «Er kann gerettet werden, wenn eine andere, reine Seele für ihn den Weg der ewigen Vernichtung geht.»

Da wandte sich die Seele, ergriff die Hand des Todes und bat: «Führe mich hinab in die ewige Verdammnis – ich muss ihn erlösen.»

Ein Klang, so stark wie Posaunenton und so hell wie Harfenmusik, antwortete ihr. Erschrocken wandte sie sich um. Das Himmelstor war weit aufgesprungen, und an seiner Schwelle stand, umringt von jubelnden Engeln, Maria, die Himmelskönigin. Sie streckte ihre Hände nach der zitternden Seele aus, und ihre liebliche Stimme sprach: «Komm, er ist erlöst! Deine Liebe, du reine Seele, hat ihn gerettet. Komm, ich selbst führe dich zu des Allmächtigen Thron. Du bedarfst keines Schleiers, denn du bist in der sengendsten Glut geläutert. Du bedarfst keiner Binde, denn du trägst einen Funken des strahlenden göttlichen Lichtes in dir. Komm – was auf Erden dein Fluch war, das wird hier dein Segen werden.»

Und an der Hand der heiligsten Frau trat die arme, gequälte Seele ein in das Reich Gottes. Dröhnend fielen die schweren Türen hinter ihnen zu.

«Verzeih», bat der Tod, «meine Arbeit hier oben ist zwar beendet – aber eine Frage gestatte mir noch. Du und die Himmelskönigin – ihr spracht beide von dem Licht, das euer Reich erfüllt, dessen Glanz und Wärme die beiden anderen Seelen nicht ertragen könnten. Was ist es damit?»

«Es ist die Liebe», sagte Petrus, und seine strengen Züge leuchteten in Güte und Milde. «Die allverstehende, allverzeihende, allopfernde, selbstlose, unermüdliche Liebe. Die göttliche Liebe, die man auf Erden wohl predigt, die aber von den Menschen verfolgt und verhöhnt wird, wenn sie sich unter ihnen zeigt. So wie sie Christus einst kreuzigten, als er sie die Liebe lehren wollte, so kreuzigen sie auch heute noch die Liebe, wenn sie zu ihnen kommt. Und wie die Juden zum Henker an ihrem Messias wurden, so wird der Mann zum Henker der Frau, wenn er ihre Liebe nicht versteht. Wie der Heiland für seine Peiniger um Vergebung bittet, so fleht die Frau vor Gottes Thron um die Erlösung dessen, den sie liebt. Denn so will es das wahre Wesen der heiligen Liebe, und darum wird das Licht auch nie erlöschen. Es wird strahlen in ewigem, unbesiegtem Glanz, solange es einen Himmel gibt und auf Erden reine Frauenherzen.»

 

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