Erinnerungen sind kleine Lichter, die uns aus dem Dunkel der Vergangenheit leuchten. Hier und da strahlen sie auf, daneben aber herrscht Dunkelheit und ungewisses Dämmern. Doch diese Lichter erlöschen nicht – im Gegenteil: Je älter wir werden, desto heller scheinen sie. So ist es wohl bei jedem Menschen.
Mein Vater erzählte mir einmal folgende Geschichte: In seiner Schulzeit hatten sie für einige Wochen einen Aushilfslehrer. Die Schüler machten ihm das Leben schwer. Der Lehrer war schon älter, vielleicht sogar bereits im Pensionsalter. Doch eines Tages, als die Buben wieder einmal ordentlich Radau machten, stellte sich der Lehrer plötzlich vor die Klasse, räusperte sich kurz und begann, eine ganz persönliche Geschichte zu erzählen. Schlagartig wurde es mucksmäuschenstill. Selbst die schlimmsten Rabauken hörten ihm jetzt gebannt zu. Die Geschichte handelte von einem Mann und seinem Hund.
Der Mann war klein, hatte graue Haare und hervorstehende, dunkle Augen. Sein Gesicht war von Kummer gezeichnet. Er war bucklig, und dieser Buckel, der hoch oben auf seinem Rücken sass, schien seinen Kopf immerzu zur Brust hinunterzudrücken, als würde er sich nicht trauen, jemandem direkt in die Augen zu sehen. Er war ein Hausierer, der mit Schuhbändeln und Schuhwichse sein Brot verdiente – ein armer Mann, dessen einziger Freund sein Hund war: Bruno, ein struppiger, vernachlässigter Köter, der mit unerschütterlicher Treue an seinem Herrn hing. Tagsüber streunte Bruno durchs Dorf, jagte Katzen oder rang mit anderen Hunden, doch sobald sein Herr auftauchte, rannte er freudig jaulend zu ihm.
Uns Kindern fiel der Mann durch seinen Buckel auf, und obwohl wir seinen Namen gut kannten, nannten wir ihn nur «Högerli». Immer, wenn wir ihn sahen, riefen wir laut und spöttisch Högerli, weil wir wussten, dass es ihn ärgerte. Natürlich machten wir auch vor seinem Hund nicht halt. Ich selbst hatte eine besondere Abneigung gegen Bruno, weil er mir einmal, als ich ihn zu sehr gereizt hatte, die Hosen zerrissen hatte. Seitdem jagte ich ihn mit Steinen davon, wann immer ich ihm begegnete.
Eines Nachmittags kam ich gerade vom Baden im Dorfbach zurück, als mir Bruno wieder entgegenlief. Wie gewohnt hob ich einen Stein auf, aber diesmal war es anders. Bruno blieb stehen, knurrte und starrte mich an. Normalerweise reichte es, wenn ich nur drohte, und er lief davon. Doch an diesem Tag schien er schlecht gelaunt und wich nicht zurück. Wut und Angst mischten sich in mir. Ohne nachzudenken, warf ich den Stein und traf ihn am Kopf. Bruno jaulte, kniff den Schwanz ein und rannte davon. In seiner Panik raste er ziellos die Strasse entlang, bog um eine Hausecke – und verschwand plötzlich. Er war in einen offenen Kellerschacht gestürzt, der hinter einer Mauer verborgen lag.
Ich hörte das dumpfe Geräusch seines Körpers, der unten aufschlug, gefolgt von einem kläglichen Winseln. Mein Atem stockte. Vorsichtig trat ich näher, spähte über den Rand des Schachts – und sah Bruno unten liegen, kaum noch beweglich. Er winselte leise, als er mich bemerkte, dann blieb er still.
Panik ergriff mich. Ich wollte weglaufen, doch meine Beine fühlten sich schwer an. Einen Moment lang stand ich reglos da, unfähig, mich zu bewegen. Dann überkam mich die Angst, jemand könnte mich hier sehen – und plötzlich rissen sich meine Beine los. Ich rannte nach Hause, ohne zurückzublicken.
Mit schwerem Herzen setzte ich mich an den Abendbrottisch, unsicher, ob jemand das Unglück bemerkt hatte. Am nächsten Abend – ich war den ganzen Tag still und in mich gekehrt gewesen – erwähnte mein Vater beiläufig, dass der Hund des Hausierers gestorben sei. Er sei gestern Abend in einem alten, verlassenen Keller gefunden worden. Meine Mutter nickte und sagte leise: «Ja, das habe ich auch gehört. Der arme Högerli, er hat so sehr an seinem Hund gehangen.»
Mein Name fiel nicht, und ich atmete erleichtert auf. «Nun ist alles gut», dachte ich. «Niemand weiss, dass ich daran schuld bin.» Ich beschloss, es für mich zu behalten. Doch das Gefühl der Erleichterung währte nicht lange. In der Nacht wachte ich mehrmals schweissgebadet auf, geplagt von quälenden Träumen. Immer wieder sah ich Brunos leblosen Körper unten im dunklen Schacht. Und ich hörte die Worte meiner Mutter, wie sie Mitleid mit Högerli äusserte. Der ruhige Schlaf kam nicht zurück, und als der Morgen graute, fühlte ich mich krank und fiebrig.
Auch die nächste Nacht verbrachte ich in unruhigem Halbschlaf, das Fieber stieg, und ich begann zu fantasieren. Schliesslich, ich weiss nicht mehr, wie lange ich im Bett lag, wachte ich eines Morgens auf und sah meine Mutter an meinem Bett sitzen. Sie schaute mich forschend an, und ich wusste, dass ich alles gestehen musste, um endlich Frieden zu finden. Schweigend hörte sie mir zu, und als ich geendet hatte, stand sie auf. «Du hast schlecht gehandelt», sagte sie ruhig.
«Ich werde es nie wieder tun», versprach ich.
«Das hoffe ich», entgegnete sie. «Aber es reicht nicht, es nur zu bereuen. Du musst darüber nachdenken, wie du es wieder gutmachen kannst.»
Ich verbrachte den ganzen Tag mit Nachdenken, und am Abend stand mein Entschluss fest. Leise schlich ich aus dem Bett, zog mich an und zerbrach meine Sparbüchse. Mit den wenigen Franken in der Tasche machte ich mich auf den Weg zu Högerli. Als ich an seine Tür klopfte, hämmerte mein Herz.
Högerli öffnete und sah mich überrascht an. «Was willst du?» fragte er. Ich konnte nichts sagen, meine Kehle war wie zugeschnürt, und ich spürte, dass ich dem Weinen nahe war. Doch Högerli schien zu spüren, dass etwas in mir vorging. «Komm rein», sagte er, diesmal viel freundlicher.
Ich setzte mich, während die Tränen mir über die Wangen liefen, und stammelte, was geschehen war. Dann griff ich in meine Tasche, zog das Geld hervor und bot es ihm an, damit er sich einen neuen Hund kaufen könnte.
Högerli stand auf, ging einige Schritte im Zimmer auf und ab, dann legte er mir sanft die Hand auf den Kopf. «Lass das Weinen, du bist doch ein grosser Junge, und grosse Jungen weinen nicht, oder?» Ich nickte und versuchte, mich zusammenzureissen. «Es war schön von dir, dass du den Mut hattest, mir alles zu sagen», fuhr er leise fort. «Es hat mir wehgetan, Bruno zu verlieren, aber jetzt tut es nicht mehr so weh, weil du mir eine Freude gemacht hast. Behalte dein Geld – und versprich mir, nie wieder ein Tier zu quälen. Auch die hässlichen Tiere leiden, vielleicht sogar mehr als die anderen, weil sie von allen verfolgt werden.»
Dann verabschiedete er mich, und als ich ging, wusste ich, dass er mir vergeben hatte. Högerli und ich wurden gute Freunde, und dieses Erlebnis lehrte mich etwas sehr Wichtiges: Alles Böse, das wir tun, fällt auf uns zurück. Es gibt eine Strafe, die tief in uns wächst und der wir nicht entkommen können, auch wenn niemand anderes davon weiss.
Diese Geschichte hat die Buben tief berührt. Plötzlich sahen sie ihren Lehrer mit anderen Augen und schämten sich dafür, ihn so geplagt zu haben. Sie bewunderten seinen Mut, ihnen dieses sehr persönliche Erlebnis anzuvertrauen. Es brachte sie dazu, ihr eigenes Verhalten zu hinterfragen und lehrte sie, wie wichtig Mitgefühl und Reue sind – und dass es niemals zu spät ist, das Richtige zu tun.
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