Das Erbe des Wandels

Vor langer Zeit, als die Menschen in kleinen Gemeinschaften lebten und die Erde noch weit und unberührt war, lebte eine Sippe in einem üppig grünen Land, das so gross war, dass sie es nie ganz durchschreiten konnten. 

Diese Sippe war eng mit dem Land verbunden, auf dem sie lebten, und sie hatten sich dort niedergelassen, um im Einklang mit der Natur zu leben. Die Sonne schien jeden Tag, und nur des Nachts fiel hin und wieder Regen. Viele Bäume spendeten nicht nur Schatten, sondern auch herrlich mundende Früchte, und dies das ganze Jahr hindurch. Die Menschen mussten sich nicht gross um die Nahrung kümmern. Alles Notwendige spendete ihnen Mutter Natur in grosser Fülle. Deshalb verehrten sie Mutter Natur als ihre liebevolle, lebensspendende Göttin.

Viele Feste wurden ihr zu Ehren gefeiert, es wurde getanzt, viel gelacht, und die alten Leute erzählten den Kindern und Jugendlichen wundersame Geschichten über das gute Leben. Gebannt lauschten die Jüngeren aus der Sippe diesen Geschichten und konnten nicht genug davon bekommen. Sobald eine Geschichte zu Ende erzählt wurde, machten die Alten die Kinder und Jugendlichen darauf aufmerksam, dass auch sie dereinst diese Geschichten an die nachfolgende Jugend weitererzählen mussten. Denn nur so konnte das gute Leben auch weiterhin bestehen.

Sie kannten weder Krankheiten noch andere Unpässlichkeiten. Doch den irdischen Tod kannten auch sie. Der Gevatter Tod schreckte sie jedoch nicht. Sie wussten um ihre Zeit des Hinübergehens und suchten sich eigens dafür ausgesuchte Plätzchen aus, wo sie dann mit einem seligen Lächeln auf den Lippen hinübergingen. Die Zurückgebliebenen trauerten nicht um sie. Im Gegenteil, sie feierten diesen Übergang mit guten Speisen, mit Singen und Tanzen. Sie ehrten den Verstorbenen mit seiner ihm eigenen Geschichte und wünschten ihm ein noch besseres Leben in der unsichtbaren Region. So zogen die Jahre dahin, wiewohl sie diesen zeitlichen Begriff nicht kannten. Sie lebten geborgen im Kreislauf der Natur.

Doch plötzlich geschah etwas gar Sonderbares: Es wurden Kinder in die Sippe geboren, die ganz anders waren. Nicht äusserlich. Nein, da unterschieden sie sich überhaupt nicht von den anderen. Jedoch verkörperten sie Eigenschaften, die bis dahin gänzlich unbekannt gewesen waren. Sie waren überhaupt nicht genügsam, schnell wurde ihnen langweilig, und sie stritten sich gerne. Sie blieben auch den Geschichten über das gute Leben fern und machten sich sogar darüber lustig. Die Ältesten machten sich erstmals grosse Sorgen, ein Gefühl, das sie bisher so noch nicht gekannt hatten. Sie beratschlagten sich und kamen zu dem Schluss, dass das Fortbestehen des guten Lebens durch diese Kinder gefährdet sei. Sollten sie diese Kinder einfach irgendwo in ihrem Lande aussetzen, an einem Ort, wo sie nicht mehr zur Sippe zurückfinden konnten? Dagegen protestierten jedoch die Mütter lautstark.

Die Mütter der Sippe waren fest entschlossen, ihre Kinder zu schützen, ganz gleich, wie sonderbar diese auch erscheinen mochten. Sie wussten, dass die Liebe zu ihren Kindern stärker war als jede Tradition, und so setzten sie sich gegen die Ältesten zur Wehr. Doch die Sorge um das Fortbestehen des guten Lebens blieb in den Herzen der Sippe bestehen, und so wurde eine Versammlung einberufen, wie es sie zuvor noch nie gegeben hatte.

Bei dieser Versammlung sprachen die Alten, die Jungen, die Männer und die Frauen. Die Sonne neigte sich bereits dem Horizont zu, als der Älteste der Sippe das Wort ergriff. Er war ein Mann von grosser Weisheit und Ruhe, und seine Stimme hatte immer alle im Bann gehalten. «Vielleicht,» begann er, «ist es nicht an uns, über diese Kinder zu richten. Mutter Natur hat uns all das Gute geschenkt, was wir heute geniessen. Vielleicht hat sie auch diese Kinder zu uns geschickt, damit wir etwas Neues lernen. Etwas, das wir bisher nicht verstanden haben.»

Eine Weile herrschte Schweigen, und die Worte des Ältesten sanken tief in die Herzen der Menschen. Es war eine neue Idee, die hier ausgesprochen wurde: die Vorstellung, dass Veränderung nicht zwangsläufig das Ende des guten Lebens bedeuten musste, sondern vielleicht sogar eine Erweiterung dessen sein konnte. Aber was sollten sie tun? Wie konnten sie verhindern, dass das Verhalten dieser neuen Kinder die Sippe auseinanderreisst?

Eine alte Frau, deren Hände so runzelig wie die Rinde eines alten Baumes waren und deren Augen von einer Weisheit zeugten, die weit über die Zeit hinausging, hob ihre Stimme. «Lasst uns die Kinder nicht verstossen, sondern ihnen mit Geduld und Liebe begegnen. Lasst uns herausfinden, was sie bewegt, was sie treibt, und ob wir gemeinsam einen neuen Weg finden können, der das gute Leben für alle bewahrt.»

So geschah es, dass die Sippe die Kinder nicht aussetzte, sondern ihnen zuhörte. Sie beobachteten sie genau und entdeckten, dass diese Unruhe, die die neuen Kinder in sich trugen, eine Kraft war, die nicht nur Zerstörung, sondern auch Schöpfung bringen konnte. Diese Kinder waren unzufrieden mit dem, was sie hatten, nicht weil es schlecht war, sondern weil sie spürten, dass es noch mehr geben konnte. Sie wollten Neues entdecken, neue Geschichten erzählen und das Land jenseits der Berge erkunden, von dem die Alten nur in den seltensten Fällen sprachen.

Und so begann eine Zeit des Wandels in der Sippe. Die Alten erzählten den Jungen nicht mehr nur die alten Geschichten, sondern lauschten auch den neuen Geschichten, die aus den Köpfen und Herzen der unruhigen Kinder sprudelten. Gemeinsam schufen sie neue Feste, in denen das Alte und das Neue zusammenkamen, wo nicht nur Mutter Natur, sondern auch der Geist des Wandels geehrt wurde.

Die Sippe begann, sich zu verändern. Sie lernten, dass das gute Leben nicht starr und unveränderlich war, sondern dass es sich immer wieder neu formen musste, um lebendig zu bleiben. Sie erkannten, dass in der Unruhe der Kinder eine Chance lag, das gute Leben nicht nur zu bewahren, sondern es zu erweitern und zu bereichern.

Am Ende verstanden die Ältesten, dass das wahre gute Leben nicht darin bestand, nur in Harmonie mit der Natur zu leben, sondern auch in Harmonie miteinander und mit den Veränderungen, die das Leben unweigerlich mit sich bringt. Und so erzählten sie den Kindern nicht mehr nur von den alten Tagen, sondern auch von der Weisheit des Wandels, von der Kraft der Neugier und von der Schönheit der Vielfalt.

Diese Geschichten wurden von Generation zu Generation weitergegeben, und das gute Leben blühte in all seinen Facetten weiter – vielleicht nicht so, wie es einst war, aber dafür in einer Weise, die alle mit einbezog, die Altes ehrte und Neues willkommen hiess. Denn sie hatten gelernt, dass das gute Leben nur bestehen konnte, wenn es sich wandelte und mit der Zeit ging. Und so lebten sie weiter in Frieden, nicht weil alles gleich blieb, sondern weil sie die Veränderungen als Teil des grossen Ganzen annahmen und feierten.

 

 

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Ich bin Hanspeter Gautschin, Erzähler und Autor von BodeständiX – Geschichten, die bleiben.

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