Der Mann betritt das kleine Café am Ende der Strasse wie jeden Tag um Punkt vier Uhr. Man könnte die Uhr nach ihm stellen, so pünktlich ist er.
Sein Platz ist immer derselbe: links am Fenster, wo eine kleine Vase mit einer frischen Blume steht. Nie sieht er dort eine welke Blüte. Er hängt seinen Mantel über die Stuhllehne, rückt den Stuhl zurecht und setzt sich. Kaum ist er angekommen, bringt man ihm seine erste Tasse Kaffee. Er ist ein Stammgast, und zwar einer der angenehmen Sorte.
Einige Minuten später geht die Tür erneut auf, und sie tritt ein. Ihr Bus ist entweder immer viel zu früh oder auf die Sekunde genau, weshalb sie meistens erst kurz nach vier Uhr hereinkommt. Hastig verschwindet sie im Hinterzimmer und taucht wenig später hinter dem Tresen auf, bereit für ihre Spätschicht. Ihr Blick gleitet prüfend über die Tische, während die Kollegin ihr die offenen Bestellungen erklärt. Kurz darauf ist sie allein. Allein mit den ersten Gästen des Nachmittags. Und ihm.
Von seinem kleinen Ecktisch aus hat er den besten Blick auf sie. Seit dem ersten Tag fasziniert sie ihn. Er kann nicht genau sagen, was es ist, aber sie besitzt etwas Besonderes. Etwas, das ihn magisch anzieht und ihn immer wiederkommen lässt. Sie hat eine warme Ausstrahlung und eine wohltuende Tiefe in ihrem Blick. Er denkt, dass jeder, der etwas Schönes in seinem Leben sehen möchte, sie kennenlernen sollte.
Da lächelt sie ihm zu. Das tut sie immer. Sie ist es gewohnt, dass er täglich dort sitzt. Doch dass er ihretwegen kommt, ahnt sie nicht.
Sie hält sich selbst für nichts Besonderes. Durchschnittlich, würde sie sagen. Weder aussergewöhnlich hübsch noch hässlich. Sie lebt allein, hat viele Bekannte, aber nur wenige Freunde. Im Café verdient sie sich ein bisschen dazu. Für sie ist ihr Leben ganz normal, ohne grosse Höhepunkte.
Der Mann aber sieht das anders. Für ihn ist sie etwas ganz Besonderes.
Es gibt da diese eine kleine Sache: Immer, wenn sie an einen Tisch gerufen wird, um zu kassieren, und wartet, während der Gast sein Geld sortiert, lächelt sie leicht und streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Das ist ihm schon bei seinem ersten Besuch aufgefallen, und seither kommt er jeden Tag wieder. Meistens liest er eine Zeitung, schielt aber unauffällig hoch, wenn sie vorbeigeht. Und immer, wenn jemand «Zahlen, bitte!» ruft, macht sein Herz einen Sprung. Er weiss, was es bedeutet. Diese winzige, unwillkürliche Bewegung, wahrscheinlich nur eine dumme Angewohnheit oder eine Unsicherheit. Für andere kaum bemerkbar, doch für ihn ist es das Schönste, was er je gesehen hat.
Kurz vor sechs Uhr erhält er wie immer seine Rechnung: «Wir sehen uns morgen», sagt er. «Bis morgen», lächelt sie und streicht sich eine Haarsträhne zurück.
So geht das Tag für Tag. Der Mann und die Kellnerin im Café am Ende der Strasse. Beide wissen, dass die Welt sich weiterdreht, aber manchmal, nur manchmal, scheint sie für einen Augenblick stillzustehen. Und dieser Augenblick ist für ihn das Schönste auf der Welt.
Schön ausgedacht, man möchte mehr über die beiden Menschen erfahren!
Danke! Das Weitere überlasse ich der Phantasie meiner Blogleser/innen.