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Arbeiten und Schaffen – zwei Welten
Eine sonnenbeschienene Holzwerkbank ist mit Handwerkzeugen, Holzspänen und Linealen in der Nähe eines offenen Fensters ausgestattet - ein perfekter Ort für kreatives Arbeiten und Schaffen. Draußen ergänzen Grünpflanzen und ein verwitterter Schuppen das helle, rustikale Bild.

Mein Vater war Schreiner. Betriebsschreiner, wie man sagte. Er arbeitete in einer grossen Uhrenfabrik. Jeden Morgen, pünktlich um halb sieben, ging er aus dem Haus. Er ging zur Arbeit. So hat er es genannt. «Ich gehe zur Arbeit.»

Er fluchte viel über diese Arbeit. Über die Bude, wie er sagte. Die Bude, das war die Fabrik. Es war ein Wort voller Ärger. In der Bude gab es Chefs und Regeln. Es gab Lärm, es gab Zeitdruck. In der Bude war man nicht frei.

Abends kam er heim. Und dann sagte er manchmal: «Ich gehe noch in die Butik.» Die Butik war seine kleine Werkstatt, gleich unten im Erdgeschoss. Dort standen Hobel und Hobelmaschine, Leimtopf und Schraubstock. Dort roch es nach Holz und nach Freiheit. In der Butik konnte er machen, was er wollte. Er konnte schreinern, wie er es für richtig hielt. Er konnte tüfteln, probieren.

Er hatte auch Aufträge. Kleine Sachen. Ein Tischbein, das geflickt werden musste. Ein Schrank, der gebaut werden wollte. Alles schwarz, versteht sich. Es war eine andere Zeit. Aber er tat es gern. Er tat es ohne Chef, ohne Druck. In der Butik ging er nicht zur Arbeit. In der Butik schaffte er.

Ich habe das nie vergessen. Dass derselbe Mann morgens «zur Arbeit» ging und abends «in die Butik». Dass er dieselbe Tätigkeit tat, Holz zuschneiden, hobeln, leimen – und dass es doch nicht dasselbe war.

Bauern gehen nicht «zur Arbeit». Sie gehen in den Stall, aufs Feld, in den Rebberg. Handwerker sagen, sie seien «in der Werkstatt» oder «auf der Baustelle». Künstler sagen, sie seien «im Atelier».

«Zur Arbeit gehen» sagen vor allem Angestellte. Menschen, die morgens aus dem Haus gehen und einen Ort betreten, der nicht ihnen gehört. Ein Ort mit Regeln, Zeiten, Löhnen. Arbeit ist für sie ein Raum, eine Pflicht.

Die Sprache verrät, wie man sich fühlt. «Zur Arbeit» klingt wie eine Last. «In den Stall» klingt wie eine Aufgabe. «In die Werkstatt» klingt wie ein Vergnügen.

Früher sagten die Menschen nicht, sie gingen zur Arbeit. Ein Bauer im Mittelalter hat so etwas nicht gesagt. Er hat die Kühe gemolken, das Feld bestellt, das Holz gehackt. Es gab keine Trennung. Leben war Arbeit, und Arbeit war Leben.

Erst die Fabrik hat diese Trennung gebracht. Erst die Stechuhr, die Lohnabrechnung. Da begann man, «zur Arbeit» zu gehen. Da gab es plötzlich Feierabend, Wochenende, Ferien. Wörter, die es vorher nicht gebraucht hat.

Selbständige kennen diesen Satz kaum. Sie reden von Aufträgen, von Projekten, vom Geschäft. Ein Schreiner sagt: «Ich habe einen Auftrag.» Eine Ärztin sagt: «Ich habe Sprechstunde.» Eine Texterin sagt: «Ich arbeite an einem Artikel.»

Angestellte sagen: «Ich gehe zur Arbeit.» Für sie ist Arbeit ein Ort. Für Selbständige ist Arbeit eine Tätigkeit.

Das ist der Unterschied. Der eine geht weg von sich. Der andere bleibt bei sich.

Arbeit ist ein seltsames Wort. Für viele ist es nur das, was bezahlt wird.
Eine Frau, die ihre Kinder erzieht, sagt nie: «Ich gehe zur Arbeit.»
Ein Sohn, der seinen alten Vater pflegt, sagt nicht: «Ich gehe zur Arbeit.»

Aber sie arbeiten. Manchmal härter als andere. Nur heisst es nicht so.

Heute verschwimmen die Grenzen. Man arbeitet zuhause, am Computer, im Zug. Man klappt den Laptop auf, und die Arbeit beginnt. Man geht nicht mehr weg, man ist schon da.

Manche sagen gar nicht mehr: «Ich gehe zur Arbeit.» Sie sagen: «Ich bin im Homeoffice.» Es ist wieder eine neue Sprache.

Wenn ich an meinen Vater denke, sehe ich ihn morgens mit schweren Schritten aus dem Haus gehen. «Zur Arbeit», sagte er, und es klang nach Last. Abends aber, wenn er «in die Butik» ging, klang es leicht. Es klang nach Freude.

Es war dieselbe Tätigkeit. Holz zuschneiden, hobeln, leimen. Aber es war nicht dasselbe. Dort war er Angestellter, hier war er frei. Dort war er ein Rad im Getriebe, hier war er Meister.

So habe ich gelernt, dass Arbeit nicht einfach Arbeit ist. Sie ist Pflicht oder Freiheit, Last oder Vergnügen. Sie ist das, was man tut – oder das, was man aushalten muss.

Vielleicht sollten wir weniger oft sagen: «Ich gehe zur Arbeit.» Vielleicht sollten wir sagen, was wir wirklich tun. «Ich gehe in den Stall.» – «Ich gehe an den Hobel.» –  «Ich gehe an den Schreibtisch.»

Dann klingt es anders. Dann gehört es uns wieder.

 

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Ich bin Hanspeter Gautschin, Erzähler und Autor von BodeständiX – Geschichten, die bleiben.

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