Als Kind hörte ich eine alte Sage – darüber, warum das Weidental in meinem Heimatort so heisst, wie es heisst. Die Geschichte war geheimnisvoll, und ich erinnere mich nur noch an ein paar Bruchstücke.
Nun habe ich sie mit viel Fantasie neu erzählt.
Im alten Onoldswil lebte einst eine Magd namens Alma. Sie diente auf einem Hof im heutigen Weidental.
Alma war eine stille, fleissige Frau. Sie tat ihre Arbeit gewissenhaft und ohne viel Aufhebens. Wenn andere klagten, schwieg sie. Sie tat, was getan werden musste – und hielt sich aus allem heraus.
Im Dorf kannte man sie, doch man sprach nicht viel über sie. Sie war weder jung noch alt – irgendwo dazwischen. Ihre Hände waren rauh von der Arbeit, ihr Blick wachsam, ohne aufdringlich zu sein. Die Tiere mochten sie, selbst der störrische Geissbock liess sich von ihr führen. Es hiess, sie stamme aus dem Leimental, aber genau wusste es niemand.
Eines Morgens, beim Auskehren des Herds, fand sie in der Schaufel einen gefalteten Zettel. Die Schrift war fein und klar, der Ton höflich:
«Du sollst morgen bei einem Kindlein Gevatter stehen. Es wird dir kein Schaden sein.»
Sie zeigte das Zettelchen der Bäuerin. Diese wurde ernst und sagte bloss:
«Geh hin. Wenn man gerufen wird, soll man nicht widerstehen.»
Weiter fragte Alma nicht.
In der Nacht machte sie sich auf. Der Rehhag lag still unter dem Sternenhimmel. Oben, beim Fels, wo heute das sogenannte Panzertürmli steht, wartete sie. Als die Uhr vom fernen Kirchturm Mitternacht schlug, öffnete sich im Gestein ein Spalt. Kein Krachen, kein Donner – nur ein leises Zurückweichen des Steins. Ein Lichtschein trat hervor, warm und ruhig.
Alma trat ein.
Drinnen war es hell und still. Wände aus schimmerndem Gestein, Wege, die sich wanden wie Wurzeln. Kleine Gestalten kamen ihr entgegen, freundlich und zuvorkommend. Sie führten sie zu einer goldenen Wiege, in der ein Kindlein lag. Man bedeutete ihr, dass sie ihm einen Namen geben solle.
Sie sprach den Namen «Trinli», wie ihre Grossmutter geheissen hatte.
Dann wurde gegessen und musiziert. Es wurde getanzt, es wurde gelacht. Als der Morgen kam, wollte Alma gehen. Die Zwerge baten sie zu bleiben – drei Tage nur.
Sie überlegte nicht lang und sagte Ja.
Die Zeit verging rasch. Am vierten Tag brachte man sie zurück an den Ausgang. Einer der Zwerge übergab ihr einen Ring aus rotem Erz:
«Wenn du ihn trägst, werden dich die Deinen erkennen.»
Ein anderer neigte sich zu ihr und flüsterte:
«Die goldene Wiege bleibt dort, wo du dem Kind den Namen gabst. Sie ist dein stilles Erbe.»
Der Spalt schloss sich. Draussen war heller Tag. Alma machte sich auf den Weg talwärts – doch der Weg kam ihr fremd vor. Das Haus, in dem sie gedient hatte, war verfallen. Sie ging ins Dorf, setzte sich auf die Bank beim Brunnen.
Niemand erkannte sie.
Da kam ein alter Mann des Wegs. Er setzte sich zu ihr und fragte:
«Was plagt dich, Kind?»
Als er den roten Ring an ihrer Hand sah, erschrak er.
Mit leiser Stimme sagte er:
«Mein Grossvater hat erzählt, dass sein Grossvater als Bub ein Mädchen kannte, das beim Auskehren einen Zettel fand und verschwand. Das ist – bald hundert Jahre her.»
Kaum hatte er das gesagt, wurde Alma bleich. Ihr Rücken krümmte sich, ihre Hände wurden knorrig, ihr Haar grau. In einem einzigen Augenblick wurde sie ein uraltes Mütterchen. Sie sackte zusammen – und starb.
Man begrub sie beim Weidentalbächlein. Den Ring legte man ihr mit in die Erde. Im Frühling blühten an ihrer Stelle Weidenkätzchen.
Und die Alten sagen, dass das Tal darum Weidental genannt wird.
Tief im Rehhag aber, so erzählt man, steht die goldene Wiege noch immer dort, wo Alma einst das Kindlein segnete. Die Zwerge hatten sie ihr als stilles Erbe versprochen.
Viele haben nach ihr gesucht – aber keiner hat sie je gefunden.
Wenn abends der Wind durch die Bäume streicht, meinen manche, ein leises Wiegenlied vom Rehhag her zu hören.
Aber das sind Dinge, die sich nicht beweisen lassen.
Lieber Hanspeter, eine schöne Geschichte übers Weidental. alle Orte sind mir wohlbekannt. Herzlicher Gruss und freue mich auf weitere schöne Geschichten. Peter
Lieber Peter,
das freut mich ganz besonders – gerade wenn jemand die Orte kennt, bekommen solche Geschichten einen tieferen Klang. Ich danke dir herzlich für deine Rückmeldung und nehme sie gerne als Ansporn, weitere Sagen und Erinnerungen aus unserer Gegend aufzuschreiben.
Herzliche Grüsse zurück – und bis bald wieder!