Der Judasbock – Vertrauen als Steuerungswaffe
Ein weißer Ziegenbock mit langen Hörnern - der Judasbock - führt eine Schafherde aus einem dunklen Steintunnel ins Sonnenlicht und geht auf einem Steinweg.

In den Schlachthöfen früherer Zeiten bediente man sich eines simplen Tricks, um das Treiben der Tiere zu erleichtern: Man schickte einen sogenannten Judasbock voran – ein einzelnes Tier, das gelernt hatte, ruhig und zielstrebig durch die Anlage zu gehen. Die übrigen folgten ihm – aus Gewohnheit, vielleicht auch aus Vertrauen. Der Bock kam jeweils heil wieder heraus, die Herde nicht.

Der Bock wurde belohnt. Nicht spektakulär, aber verlässlich: mit Futter, mit Sicherheit, mit Vertrautheit. Das genügte. Die Konditionierung wirkte – nicht durch Zwang, sondern durch Wiederholung und Bestätigung. So lernte er zu führen – und andere ins Verderben zu begleiten. Nicht aus Bösartigkeit, sondern weil das System funktionierte und die Belohnung stimmte.

Dieses einfache, wirksame Prinzip ist längst nicht in der Tierhaltung geblieben. Es wirkt bis heute – mit anderen Mitteln, anderen Figuren und in anderen Gängen.

Heute heissen die Judasböcke anders. Sie tragen Kittel, Anzüge, Mikrofone. Sie treten in Talkshows auf, unterrichten an Hochschulen, moderieren Nachrichten, kuratieren Hashtags oder leiten Taskforces. Es sind keine Täter im klassischen Sinn; sie sind Träger von Vertrauen – und genau das macht sie so wirksam.

Wir folgen nicht Fakten. Wir folgen Personen, denen wir vertrauen – Menschen, die unsere Sprache sprechen, unsere Codes kennen, unser Weltbild spiegeln. Menschen, die aussehen wie «einer von uns». Diese Vertrautheit beruhigt – und öffnet Türen: für Agenden, Ideologien, Konformitätsdruck. Für Lenkung im Mantel der Fürsorge.

Vier Schritte zur lenkenden Vertrauensfigur:

  • Setze auf Vertrautheit.
    Nicht Genialität zählt, nicht Macht, nicht Titel – sondern der Eindruck von Zugehörigkeit. Wer so wirkt, als sei er «einer von uns» und weiss, wohin es geht, wird nicht hinterfragt, sondern begleitet.
  • Belohne Angepasstheit.
    Sichtbarkeit, Anschluss, Fördermittel, Applaus – wer die richtige Tonlage trifft, bekommt eine Bühne. Wer stört, verschwindet. Das System kennt seine Leute.
  • Lass führen, nicht befehlen.
    Der Bock treibt nicht. Er geht einfach los – durch ideologische Korridore, narrative Schleusen, kulturelle Stillhalteabkommen. Und die Herde folgt. Freiwillig.
  • Halte die Strippen im Dunkeln.
    Die Führungsfigur steht vorn – greifbar, sichtbar, angreifbar. Wer wirklich lenkt, bleibt im Off. Und genau das macht die Sache so wirksam.

Was motiviert diese modernen Judasfiguren? Keine Bosheit, sondern der Sog der Belohnung: Aufmerksamkeit, Status, Sicherheit, Fördergelder, Karrierechancen. Wer liefert, wird gelobt; wer ausschert, verliert – erst Publikum, dann Anschluss, schliesslich Einkommen.

Der Bock von heute wird nicht mit Heu belohnt, sondern mit Sichtbarkeit, Karriere und Zugang zu Netzwerken: eine Professur hier, ein Medienpreis dort, vielleicht ein Podium in Davos. Oft bemerkt er gar nicht, dass er längst nicht mehr zur Herde gehört – sondern für etwas anderes unterwegs ist.

Historische Beispiele, die zu denken geben:

  • John W. Hill, PR-Stratege der Tabakindustrie: Gründer der PR-Firma Hill & Knowlton, war federführend darin, ab den 1950er-Jahren Zweifel an der Schädlichkeit des Rauchens zu streuen – trotz interner Beweise in der Industrie. Statt mit Lügen arbeitete er mit «Experten», die als neutral galten. Die Methode: nicht leugnen, sondern Unsicherheit erzeugen. Ein Lehrstück in orchestrierter Verharmlosung mit PR-Maske.
  • Claas Relotius – gefeierter Spiegelreporter, später als Fälscher entlarvt: schrieb jahrelang emotional aufgeladene Reportagen für den Spiegel, die alles erfüllten, was man von einem «guten Menschen» erwartete – Opfergeschichten, Haltung, Ergriffenheit. Er wurde mit Preisen überhäuft, bis sich herausstellte: Viele seiner Geschichten waren weitgehend erfunden. Nicht weil er zu wenig wusste – sondern weil er zu gut wusste, was gehört werden wollte.
  • Kollaborateure im Nazi-Europa trugen selten Uniform. Sie sassen in Pfarrhäusern, Lehrerzimmern und Amtsstuben. Ihr Gehorsam wurde nicht erzwungen, sondern belohnt.
  • Bill Gates – das moderne PR-Gesicht des «Guten»: Bill Gates trat nach seinem Rückzug aus Microsoft zunehmend als Philanthrop auf – als Förderer von Gesundheit, Bildung, Klimaschutz. Seine Stiftung ist global vernetzt, mächtig, gut organisiert. Doch gleichzeitig beeinflusst sie mit Milliarden öffentliche Agenden, ohne demokratische Kontrolle. Gates spricht ruhig, sachlich, fürsorglich – genau das macht ihn zur perfekten Vertrauensfigur. Kritische Fragen gelten oft als «unsachlich».
  • Faktenchecker, finanziert von Regierungen, Stiftungen oder Tech-Konzernen, treten als neutrale Instanzen auf, etikettieren jedoch Meinungen, statt Debatten zu erweitern. Lohn: Fördermittel, Sichtbarkeit, Macht.

Warum funktioniert das so gut?

Das System will keine Tyrannen. Es will Zustimmer. Zustimmung entsteht leichter über Identifikation als über Zwang. Niemand wird geprügelt; man wird umarmt – medial, sozial, institutionell. Sichtbarkeit macht süchtig, Relevanz ersetzt Wahrheit.

Das Judasbock-Modell wirkt, weil es leise ist: Es fordert nicht auf, es geht vor; es führt keine Debatte, es erzeugt Stille. Es spielt auf der Klaviatur der Angst – allein zu stehen, ausgeschlossen zu werden, falsch zu liegen.

Wichtige Fragen an jede vertraute Stimme:

– Wer finanziert diese Stimme?
– Wem nützt ihr Narrativ?
– Was würde sie verlieren, wenn sie das Gegenteil behauptete?
– Würde sie auch dann noch sprechen, wenn sie dafür keinen Applaus bekäme?

Wer darauf keine Antwort hat, steht womöglich schon im Korridor.

Die Lösung ist unbequem, aber einfach: nicht schreien, nicht kämpfen – stehen bleiben. Nicht folgen, nicht klatschen, nicht blind vertrauen. Dem Bock keine Bühne überlassen.

Denn das Schlachthaus fällt nicht durch Aufruhr. Es fällt, wenn niemand mehr hindurchgeht.

 

 

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Ich bin Hanspeter Gautschin, Erzähler und Autor von BodeständiX – Geschichten, die bleiben.

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