Das unschuldige Lämmlein

 

Manche Geschichten wirken auf den ersten Blick niedlich und harmlos – doch wer genauer hinschaut, merkt schnell: Da steckt mehr dahinter. Lisa Wenger, einst die bekannteste Autorin der Schweiz, verstand es meisterhaft, mit tierischen Figuren menschliche Lebensfragen zu verhandeln – klug, verspielt und immer mit einem kleinen Stich ins Zeitlose. Auch diese Geschichte über ein fragendes Lämmchen, das sich Gedanken über die rätselhafte «Unschuld» macht, ist weit mehr als ein Kindermärchen. Zwischen Bockslogik und Schafsmoral entfaltet sich eine feine Satire über das, was man wissen darf, wissen soll – oder eben lieber nicht wissen darf. Und wie so oft bei Lisa Wenger: Wer hinhört, hört das Echo bis heute. Ich habe den Text sprachlich leicht aufgefrischt – der Witz, die Schärfe und die liebevolle Ironie der Originalfassung sind geblieben.

«Wenn das Lämmlein gross wird», sagte seine Tante, das Schaf, «dann wird man bald ans Heiraten denken müssen.»

«Daran denke ich auch», sagte das Lämmchen.

«Glaub es nicht», jammerte seine Mutter, «es denkt noch nicht an derartige Sachen. Es ist ja noch so unschuldig.»

«Was hat denn das Heiraten mit der Unschuld zu tun?» fragte das Lämmchen.

«Nichts!» rief die Tante.

«Das verstehst du nicht!», antwortet man mir immer, wenn ich etwas wissen möchte», sagte das Lämmchen ärgerlich.
Mutter und Tante sahen einander an. «Wenn du einmal ein grosses Schaf bist, weisst du alles ganz von selber.» Da kam der Bock, Lämmchens Onkel, vorbei.

«Onkel, was heisst unschuldig?» fragte es.
Der Onkel kratzte sich mit dem linken Hinterfuss am Kopf. «Unschuldig? Das bedeutet halt, dass man nichts weiss.»

«Aber Onkel!», rief das Lämmchen, «ich weiss so viel! Dann bin ich doch nicht unschuldig?»

«Die Dinge, die man nicht weiss, wenn man unschuldig ist», sagte der verlegene Bock, «sind nicht dieselben Dinge, die man weiss, wenn man unschuldig ist!» Er schnaufte laut.

«Aha», sagte das Lämmchen. «Sind Sie auch unschuldig, Onkel Bock?»

«Ach, Lämmchen, weisst du», sagte der Bock hilflos, «es ist so lange her, dass ich gar nicht mehr weiss, ob ich es immer noch bin!» Mutter Schaf und Tante stiessen sich mit den Köpfen.

«Sind Sie unschuldig, Frau Mutter?» fragte das Lämmlein.

«Verheiratete Leute nennt man nicht mehr unschuldig», brummte das Schaf.

«Du bist einfältig», rief die Tante. «Heirate, dann weisst du es!»

«Ich bin dumm und ich bin unschuldig – das ist viel auf einmal», klagte das Lämmchen. «Da werde ich mich mit dem Heiraten beeilen, so viel ich kann, denn unschuldig und einfältig ist niemand gern.»
«Aber Lämmchen», riefen Bock, Mutter Schaf und Tante gemeinsam, «das sagt man doch nicht!»
«Warum denn nicht?»
«Weil die Leute, wenn du das sagst, denken könnten, du seist nicht mehr unschuldig!»
«Ja, aber», sagte das Lämmchen, «ich will doch gerade heiraten, damit ich nicht mehr unschuldig sein muss.»
Da rannten die drei Alten in grossen Sprüngen davon.

«Es muss schlimm sein mit meiner Unschuld», dachte das Lämmchen betrübt, «dass sie so davonrennen. Dort oben auf der Weide grast mein Vetter, das Böcklein. Der ist klug – der kann mir bestimmt sagen, was die anderen nicht wissen.» Und das gute Lämmchen ging zum Böcklein.

Am Abend sagte es zu seiner Mutter: «Frau Mutter, ich weiss es jetzt. Unschuldig sein ist beides: angenehm und unangenehm. Eine Weile freut man sich, dass man es ist, und nach einer Weile freut man sich, dass man es nicht mehr ist. Selbst merkt man es nie, wenn man unschuldig ist, aber man merkt es sicher, wenn man es nicht mehr ist. Solange man unschuldig ist, spricht man nie davon – und wenn man nicht mehr unschuldig ist, spricht man immer davon. Von der Unschuld der anderen, meine ich!»

Argwöhnisch drehte das Schaf den Kopf. «Woher hast du diese Weisheit?» fragte es.
«Von meinem Vetter, dem Böcklein», sagte das Lämmchen vergnügt. «Und er hat sie mir ganz umsonst beigebracht!»

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Ich bin Hanspeter Gautschin, Erzähler und Autor von BodeständiX – Geschichten, die bleiben.

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