Diese Geschichte führt weit zurück in die alemannische Frühzeit.
Wer dabei das Gefühl hat, gewisse Muster kämen ihm bekannt vor – nun, das mag dem Zufall geschuldet sein.
Die Namen sind alt. Das Thema leider nicht.
Unweit des heutigen Fussballplatzes z Hof standen vor langer Zeit ein paar alemannische Gehöfte. Keine Siedlung im eigentlichen Sinn – eher verstreute Hütten, sogenannte Pfostenbauten. Sie bestanden aus Holz und Lehm, hatten steile, strohgedeckte Dächer, das Feuer brannte in der Mitte. Die Leute lebten einfach – aber sie lebten zusammen.
Sie halfen sich beim Mähen und beim Schlachten, teilten Werkzeug, Brot und auch Geschichten. Wer ein Rind hatte, lieh es dem Nachbarn zum Pflügen. Der Mahlstein drehte sich für alle – keiner drehte nur für sich. Kinder liefen zwischen den Hütten hin und her, wie es ihnen gefiel. Niemand fragte nach, denn man kannte sich. Streit kam vor, aber man setzte sich zusammen, sprach’s aus oder liess es gut sein.
Das Sippenoberhaupt hiess Widu. Ein alter Mann, wortkarg, aber wach im Geist. Er wohnte ein Stück oberhalb der Höfe, auf dem heutigen Langacker, in einer kleinen Hütte. Wenn er sprach, hörten die Leute zu. Nicht weil sie mussten – sondern weil sie wussten, dass er nichts sagte, was nicht bedacht war.
Früher, als noch Einigkeit herrschte, rief man das Thing ein, wenn es etwas zu entscheiden gab. Auf der kleinen Ebene neben dem alten Eichenbaum – dort, wo der Boden fest und der Blick weit war. Alle freien Männer der Sippe kamen dann zusammen. Man setzte sich in einen Kreis, sprach, stritt, wog ab, und irgendwann war klar, wie’s weiterging. Es ging nicht um grosse Reden, sondern um klare Worte. Einer sagte, was Sache war. Die anderen hörten zu oder widersprachen. Und wenn einer übertrieb, genügte ein Blick von Widu oder vom alten Hildemar, und es kehrte wieder Ruhe ein.
Der letzte Winter war hart gewesen. Die Kälte drang durch jede Ritze. Der Schnee drückte auf die Dächer. Einige Trägerpfosten hatten Risse, die Wände waren feucht, und das Wasser sickerte in die Böden. Man sah es. Man roch es. Und doch wurde geschwiegen.
Ein paar Männer, darunter Albold und der ruhige Heimrad, wollten handeln. Sie schlugen vor, die Pfostenbauten zu erneuern, das Flechtwerk zu verstärken, vielleicht sogar einen gemeinsamen Lehmofen zu bauen. Es war klar: Die alten Hütten hielten nicht mehr lange. Doch nicht alle wollten das sehen.
Udalrich, der Viehhirt, winkte ab: «Mein Dach tropft nur ein bisschen. Ich hab zu tun – für Flickerei, die keiner braucht, fehlt mir die Zeit.»
Berno, einer mit lauter Stimme und festen Fäusten, knurrte: «Immer dieses Gerede vom ‚Zusammen‘. Ich hab genug davon. Jeder soll erst mal vor der eigenen Hütte kehren.»
Und Hildemar, der früher noch gehört wurde, murmelte bloss: «Wir leben noch – also stimmt es so.»
Mit der Zeit gab es zwei Lager. Die, die bauen wollten. Und die, die fanden, man solle lassen, wie es ist. Erst waren es nur unterschiedliche Meinungen. Doch dann: Schweigen.
Die Kinder durften nicht mehr miteinander spielen – «wegen der Flöhe», hiess es. Beim Schlachten – früher half man sich da selbstverständlich – machte jetzt jeder für sich. Werkzeuge, die man früher geteilt hatte, blieben in der eigenen Hütte. Am Backtag kam jede Familie zu einer anderen Stunde. Der gemeinsame Mahlstein wurde nicht mehr gedreht. Man begann, sich aus dem Weg zu gehen.
Die Sippe war noch da – aber nicht mehr als Ganzes.
Widu lebte wie erwähnt oben auf dem Langacker. Früher hatte er den Thingplatz vorbereitet, hatte Streit geschlichtet und den Kindern gezeigt, wie man aus Weidenruten Körbe flechtet. Jetzt schnitzte er Löffel, trocknete Kräuter und beobachtete die Vögel.
Wenn jemand zu ihm kam, hörte er zu. Viel sagte er nicht. Nur einmal, als ihn einer fragte, was er von all dem Streit halte, sagte er:
«Was man nicht gemeinsam richtet, holt einen später ein.»
Der Sommer kam. Heiss, schwer, drückend. Niemand sprach mehr davon, die Hütten zu erneuern. Man tat, als hätte es den Winter nicht gegeben.
Und dann kam der Wind.
Er kam in der Nacht. Erst als fernes Rauschen. Dann brach er los – ein Tosen, ein Schlagen, wie von wütenden Händen. Die Bäume bogen sich. Der Regen kam waagrecht. Die Dächer flogen davon. Balken krachten, Wände stürzten ein. Die Feuerstellen erloschen. Die Hütten, über deren Zustand man zu lange hinweggesehen hatte, lagen nun in Trümmern.
Am Morgen stand die Sippe im nassen Gras. In nassen Leinenkleidern. Ohne Dach über dem Kopf.
Da kam Widu. Er hatte nichts gesagt. Aber er kam. Auf dem Rücken trug er einen Tragkorb mit Werkzeugen. Auf der Schulter einen neuen Eckpfosten. Er stellte alles auf den Boden. Schaute in die Runde. Und sagte:
«Jetzt, wo nichts mehr steht, beginnt es neu – wenn wir es zusammen wagen.»
Zuerst war es still. Dann reichte Albold dem Heimrad ein Seil. Und Udalrich trat vor, sagte nichts – aber hob einen Balken auf. Berno packte zu.
Sie bauten.
Und Widu? Der ging zurück auf den Langacker.
Später sagte man, er habe nur gemeint:
«Der Wind war nötig. Aber wir hätten’s auch früher merken können.»
Welch berührende Geschichte! Wenigstens haben die Menschen letztendlich doch begriffen, dass ein Miteinander im besten Sinne des Wortes einfach notwendig ist. Ja, der Wind war und ist nötig, gerade in unserer Gegenwart.
Liebe Grüße, C Stern