In der Nacht, als das alte Jahr zu Ende ging, klopfte es leise an die Tür der kleinsten Schäferhütte hoch oben in den Schwarzen Bergen.

«Sei vorsichtig, Herr Wind, trommle nicht so laut an die Wände, sonst fällt mein Häuschen noch um», rief ein kleiner Junge drinnen.

«Ich bin nicht der Wind», kam eine müde Stimme von draussen. Der Junge erschrak: «Wer bist du dann?»

«Ein alter, armer Mann.» Der Junge schob den Riegel zurück. Ein Schneewirbel stürmte in die Stube, und ein Greis trat über die Schwelle. Sein Bart war schneeweiss, und er ging gebückt wie ein alter morscher Baum. Seine Finger waren so steif vor Kälte, dass sie knackten.

Am Herdfeuer fragte er: «Bist du allein?»

«Nein», schüttelte der Junge den Kopf und zeigte auf den Vorhang des Bettes. «Meine Mutter schläft.» Tränen traten ihm in die Augen: «Sie ist sehr krank. Seit mein Vater zum Holzfällen in den grossen Wald gegangen ist, haben wir keine frohe Stunde mehr erlebt. Jeden Abend haben wir auf ihn gewartet, bis vor zwei Wochen der Ziegenhirte Peter kam und sagte, eine Tanne habe ihn erschlagen. Seitdem ist meine Mutter kreidebleich und fiebert. Sie hat seltsame Träume.»

Gestern habe ich sie gefragt: «Wirst du bald wieder gesund?» Sie strich mir übers Haar, sah mich traurig an und flüsterte: «Mein Herz kann erst heilen, wenn der Frühling kommt, die Wiesen grünen, die Amseln singen und die Rosen duften.» Da bin ich hinausgelaufen, habe den Schnee vor dem Fenster weggeschaufelt und das Gras gebeten: «Liebes Gras, grüne doch ein bisschen, damit meine Mutter gesund wird.» Aber das Gras raschelte nur leise: «Warte noch drei Monate, der Schnee kann das Gras nicht zum Wachsen bringen.» Und tatsächlich hat es wieder geschneit und alles zugedeckt.

«Herr Wind, warum bist du so kalt? Du schneidest ins Gesicht und dringst durch alle Ritzen», habe ich gerufen. Der Wind antwortete nicht, sondern brauste weiter durch die Wipfel: «Zur Jahreswende herrscht der Frost.» Dann habe ich das Rosenbäumchen gestreichelt und gebeten: «Ein einziges Röslein nur, ich werde es für immer danken.» Aber der Strauch flüsterte: „Der Frost sitzt in mir, wie soll ich blühen, wenn mein Lebenssaft gefroren ist?»

Ich dachte, die Amsel würde mir ein Lied singen. Ich streute Brotkrümel aufs Fensterbrett und sagte: «Wetz dein Schnäbelein.» Die Amsel piepste: «Wetzen ist leicht, singen schwer», strich ihren Schnabel am Fensterbrett und versuchte zu singen. Aber es klang nur wie Spatzengezwitscher. Beschämt flog sie fort und rief: «Ein Frühlingslied braucht Blütenschnee.»

«Was soll ich nur tun?», schluchzte der Junge.

«Hm, hm», brummte der Alte freundlich, hüllte sich in seinen Mantel und zog die Kapuze über die Ohren. «Komm mit, zeig mir den Weg zur Schneekuppe», sagte er und trank den letzten Tropfen Milch aus dem Becher, den der Junge ihm gegeben hatte.

«Bleib doch über Nacht», meinte der Junge.

«Das geht nicht», sagte der Alte. Der Junge zog seine Jacke an, wickelte sich in einen warmen Schal und folgte dem Alten hinaus in die kalte Winternacht.

Der Wind blies ihnen ins Gesicht, dass es wehtat, und der Schnee knirschte unter ihren Füssen.

«In einer Stunde sind wir oben», sagte der Junge, um den Alten zu ermutigen. Der Alte lächelte.

Plötzlich standen sie vor einem riesigen Schloss aus Granit. Es war von einer mächtigen Silberglocke überdacht, in deren Mitte eine riesige Uhr mit goldenen Zahlen und Zeigern leuchtete, die Weltenuhr. Ringsum funkelten Kristalle im Fels, die so hell glitzerten, dass dem Jungen die Augen schmerzten. Ein wunderbares Singen und Klingen begann: «Das Jahr ist nun zu Ende …»

Der Greis beugte sich zum Jungen und flüsterte: «Ich bin das alte Jahr. Meine Zeit ist um. Ich kann dir nicht danken, aber das neue Jahr wird es tun. Niemand geht unbeschenkt aus der Burg der Zeit.» Der Silberhaarige blies in ein goldenes Horn. Das Singen verstummte. Schwere Eisenpforten öffneten sich, und Elfen, Zwerge, Riesen und Feen kamen heraus. Der Alte nickte ihnen zu. Sie verbeugten sich und umkreisten das grosse Marmorbecken im Saal.

Der Greis sprach: «Bald wird der letzte meiner dreihundertfünfundsechzig Riesenknechte, die jeden Tag die goldenen Zeiger der Weltenuhr bewegen und die Stunden schlagen, zur Ruhe gehen. Dann ist meine Zeit zu Ende. Den Fröhlichen mag sie zu schnell, den Traurigen zu langsam vergangen sein. Manche segnen mich, andere verfluchen mich. Wenige bedenken, dass ich oft nichts für ihr Schicksal konnte, sondern nur zusehen konnte, wie gute und schlechte Saat vergangener Tage aufging. Viele haben nicht verstanden, die goldene Stunde zu nutzen, die ich ihnen bot. Tausende Wünsche blieben unerfüllt. Wo ich konnte, schenkte ich Rosen, Gesundheit und Frohsinn, doch manchen brachte ich Dornen, Krankheit und Sorge. Wenn ich das tun musste, litt ich mit ihnen. Ich bin der Herrschaft müde und gehe gerne. Möge der, der nach mir das Zepter führt, alles, was ich begann, glücklich vollenden.»

Die Stimme des Greises versagte. Zwölf gewaltige Glockenschläge ertönten. Als der letzte verhallte, erloschen die Flammenzahlen des alten Jahres hoch oben in der Silberkuppel. Der Greis warf sein goldenes Horn ins Marmorbecken und brach zusammen. Vier neue Zahlen flammten auf. Im Becken wirbelten Nixen durchs Wasser und eine braune Knospe wuchs zur prächtigsten Seerose.

Ein wunderschöner Jüngling stieg aus ihr hervor. Er nahm das goldene Horn, das auf den Wellen tanzte, und strich sich das Blondhaar aus der Stirn. «Heil dir, Prinz Neujahr», riefen die versammelten Wesen. Der Jüngling verneigte sich und begrüsste seine Diener: die Sonnenelfen, die die Sonne über den Himmel rollen; die Sternenfeen, die den Nachthimmel mit Sternen schmücken; die Mondzwerge, die die Mondlaterne aufstellen; die Regenbogenfräulein, die den Regenbogen spinnen; die Zentauren, die Blitze, Donner, Regen und Schnee bringen.

Nachdem Prinz Neujahr ihnen ihre Aufgaben für das kommende Jahr gegeben hatte, stoben sie davon. Nur der Junge blieb stehen und staunte. Der Prinz bemerkte ihn und fragte: «Wie bist du hierhergekommen?» Der Junge erzählte ihm von seiner kranken Mutter. Der Prinz lächelte und sagte: «Komm mit mir.»

Er nahm das Horn und rief ein Elfenkind herbei: «Leih dem Jungen deine Schmetterlingsflügel.» Der Junge flog mit dem Elfenkind durch die Luft wie eine Schwalbe, über Bäche und Berge, Täler und Hügel. Weit jenseits des Meeres landeten sie im Feengarten.

«Trag deine Bitten selbst vor», sagte Prinz Neujahr und setzte das Horn an den Mund.

«Was wünschst du dir?» flüsterte eine grasgrüne Fee.

«Ein Plätzchen Mattengrün für meine Mutter», bat der Junge. Die Fee gab ihm ein leichtes Röllchen: «Dieses Geflecht kann meilenweit Mattengrün schaffen.»

Prinz Neujahr rief erneut: «Was wünschst du dir?»

«Ein Röslein für meine Mutter», sagte der Junge schüchtern. Die Rosenfee küsste ihn und sagte: «So viel du willst.» Nun lachte der Junge, und bei jedem Lächeln sprossen Rosen von seinen Lippen.

Zum dritten Mal fragte Prinz Neujahr: «Was wünschst du dir?»

«Amselsang für meine Mutter, ein einziges Lied», bat der Junge. Ein Vogelzwerg gab ihm ein goldenes Flötchen: «Versuch es damit.» Der Junge spielte, und alle Amseln im Gebüsch stimmten ein. «Nun muss die Mutter gesunden», jauchzte das Büblein, schlug vor lauter Freude einen Purzelbaum und bedankte sich aufs Schönste.

Der Flug ging zurück in die Burg der Zeit. Weil dem Elflein unterdessen neue Flügel gewachsen waren, durfte der Knabe die geliehenen mit sich nehmen. Es lässt sich denken, wie es ihn freute. Er konnte nicht genug Dank sagen und wollte dem Prinzen zum Abschied die Hand küssen, als er plötzlich das greise Jahr gewahrte, wie es am Marmorbecken kauerte, das müde Haupt auf die Schultern gesunken, die Augen geschlossen.

«Schläft der gute Alte? Ich möchte ihm auch ade sagen», fragte das Büblein. «Er hat den grossen Schlaf angetreten», gab der Jüngling Bescheid. Der Kleine bat: «Dein goldenes Hörnchen weckt ihn gewiss!» Prinz Neujahr lächelte traurig: «Nein, seine Zeit ist um. In zwölf Monden wird es die meine sein. Spute dich, Kleiner, auch deine Zeit ist abgemessen und kehrt nicht wieder!»

 

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